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Der Menschen Hoerigkeit

Der Menschen Hoerigkeit

Titel: Der Menschen Hoerigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W. Somerset Maugham
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ihn flehentlich an; sie wagte nicht, um Trost zu bitten, verlangte aber mit jedem Nerv danach. Er hatte keinen Trost für sie.
    »Es tut mir leid, aber ich glaube, du bist wirklich sehr krank.«
    »Was denkst du, was mir fehlt?«
    Als er es ihr sagte, wurde sie leichenblass, und ihre Lippen nahmen eine gelbliche Färbung an. Sie fing an zu weinen, hoffnungslos, still zuerst und dann mit ersticktem Schluchzen.
    »Es tut mir schrecklich leid«, sagte er schließlich. »Aber ich musste es dir doch sagen.«
    »Da kann ich mich am besten umbringen, dann ist es wenigstens vorbei.«
    Er beachtete die Drohung nicht.
    »Hast du Geld?«, fragte er.
    »Sechs oder sieben Pfund.«
    »Du musst mit diesem Leben sofort aufhören. Glaubst du denn nicht, dass du Arbeit finden könntest? Ich kann dir leider nicht viel helfen, ich verdiene selbst nur zwölf Shilling die Woche.«
    »Es gibt ja nichts, was ich tun kann«, schrie sie ungeduldig.
    »Verdammt noch mal, du musst doch zumindest versuchen, Arbeit zu bekommen.«
    Er sprach sehr ernst mit ihr über die Gefahr, in der sie sich befand und der sie andere aussetzte, und sie hörte niedergeschlagen zu. Er versuchte, sie zu trösten. Schließlich rang er ihr eine missmutige Erklärung ab, dass sie alles tun werde, was er ihr riet. Er schrieb ein Rezept aus und sagte ihr, er würde es beim nächsten Apotheker hinterlegen. Er betonte immer wieder, wie nötig es sei, dass sie die Medizin mit äußerster Regelmäßigkeit einnahm. Beim Abschied gab er ihr die Hand.
    »Sei nicht so niedergeschlagen; die Sache mit dem Hals wird schon in Ordnung kommen.«
    Als er sich dann zum Gehen wandte, verzerrte sich plötzlich ihr Gesicht; sie hielt ihn am Mantel fest.
    »Geh nicht weg«, schrie sie heiser. »Ich fürchte mich so; lass mich nicht allein, noch nicht. Phil, ich bitte dich. Es ist niemand da, zu dem ich gehen kann; du bist der einzige wirkliche Freund, den ich in meinem ganzen Leben gehabt habe.«
    Er spürte das Grauen, das ihr in der Seele saß, es hatte eine seltsame Ähnlichkeit mit dem Grauen, das er in den Augen seines Onkels gesehen hatte: Todesangst. Philip sah zu Boden. Zweimal hatte diese Frau in sein Leben eingegriffen und ihm nur Elend gebracht. Sie besaß keinen Anspruch auf ihn. Tief in seinem Herzen jedoch – wieso, war ihm nicht klar – saß ein seltsamer Schmerz, das gleiche Gefühl, das ihn nicht eher hatte Ruhe finden lassen, bis er ihren Brief beantwortet hatte und zu ihr gegangen war.
    ›Ich werde wohl nie ganz darüber hinwegkommen‹, sagte er sich.
    Es erstaunte ihn, dass er einen ausgesprochen körperlichen Widerwillen gegen sie empfand; es war ihm unbehaglich, auch nur in ihrer Nähe zu sein.
    »Was soll ich tun?«, fragte er.
    »Geh mit mir aus, essen. Ich zahle.«
    Er zögerte. Er spürte, wie sie wieder in sein Leben zurückkroch, aus dem er sie für immer vertrieben glaubte. Sie beobachtete ihn ängstlich.
    »Ich weiß ja, dass ich dich scheußlich behandelt habe; aber lass mich jetzt nicht allein. Du hast deine Rache. Wenn du mich jetzt allein lässt, weiß ich nicht, was ich tue.«
    »Gut, ich habe nichts dagegen«, sagte er, »aber wir müssen es billig halten; ich kann jetzt kein Geld aus dem Fenster werfen.«
    Sie setzte sich hin und zog sich die Schuhe an, wechselte den Rock und setzte den Hut auf; dann gingen sie nebeneinander her bis zu einem Restaurant in der Tottenham Court Road. Philip hatte es sich abgewöhnt, um diese Tageszeit zu essen, und Mildreds Hals war so entzündet, dass sie kaum schlucken konnte. Sie bestellten sich etwas kalten Schinken, und Philip ließ sich ein Glas Bier geben. Sie saßen einander gegenüber, wie sie es oft vorher getan hatten, und er hätte gern gewusst, ob sie sich daran erinnerte. Sie hatten einander nichts zu sagen und wären wohl schweigend dagesessen, wenn Philip sich nicht zum Reden gezwungen hätte. In dem grellen Licht des Restaurants, mit seinen vielen billigen Spiegeln, die alles vielfach wiedergaben, sah Mildred alt und mager aus. Philip wollte gern hören, was mit dem Kind geschehen war, aber er hatte nicht den Mut, sie danach zu fragen. Endlich sagte sie:
    »Weißt du eigentlich, dass die Kleine vorigen Sommer gestorben ist?«
    »Ach!«, sagte er.
    »Du könntest wenigstens sagen, dass es dir leidtut.«
    »Es tut mir nicht leid«, antwortete er. »Es freut mich.«
    Sie warf ihm einen Blick zu, verstand, wie er es meinte, und sah weg.
    »Du hast sehr an ihr gehangen, nicht wahr? Ich habe es immer komisch

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