Der Menschen Hoerigkeit
Abschied erhielt. Die beschämenden Qualen, die er ausgestanden hatte, als er auf Arbeitssuche war, standen ihm noch lebhaft vor Augen. Er wollte sich dem nicht noch einmal aussetzen. Er wusste sehr wohl, dass er keine großen Chancen hatte, woanders als Modezeichner unterzukommen: Es gab Hunderte von Leuten, die nicht schlechter zeichneten als er und Arbeit suchten. Aber Geld brauchte er bitter nötig; seine Anzüge waren abgetragen, und die schweren Teppiche verdarben ihm Schuhe und Strümpfe. Er hatte sich fast dazu entschlossen, den gefährlichen Schritt zu wagen, da sah er eines Morgens, als er vom Frühstück im Erdgeschoss durch den Durchgang kam, in dem das Büro des Leiters lag, eine ganze Reihe Männer vor dessen Büro Schlange stehen, die alle Arbeit suchten. Es waren an die hundert, die sich da bewarben, und derjenige, der eingestellt wurde, würde wie er sechs Shilling die Woche erhalten. Er sah, wie man ihm neidische Blicke zuwarf, weil er eine Stellung hatte. Ihm schauderte. Er wollte sie nicht aufs Spiel setzen.
108
Der Winter ging vorüber. Hin und wieder sah Philip – zu später Stunde, wenn er nicht zu fürchten brauchte, einen Bekannten zu treffen – im Hospital nach, ob Briefe für ihn angekommen waren. Zu Ostern erhielt er einen Brief von seinem Onkel. Er war überrascht, von ihm zu hören, denn der Vikar von Blackstable hatte ihm alles in allem nicht mehr als ein halbes Dutzend Briefe geschrieben, und darin war es immer um geschäftliche Angelegenheiten gegangen.
Lieber Philip!
Solltest Du etwa in nächster Zeit einmal Ferien machen und hierherkommen wollen, so würde ich mich darüber freuen. Ich bin im Winter recht krank gewesen: die alte Bronchitis. Dr. Wigram hat nicht geglaubt, dass ich mich noch einmal aufrappele. Ich habe eine prachtvolle Konstitution und danke Gott für die wunderbare Genesung.
Herzlichst
William Carey
Der Brief erboste Philip. Wovon glaubte sein Onkel eigentlich, dass er lebte? Er machte sich nicht einmal die Mühe, danach zu fragen. Verhungern hätte er können, ohne dass er sich darum gekümmert hätte. Auf dem Heimweg überfiel ihn jedoch plötzlich ein Gedanke. An einem Laternenpfahl blieb er stehen und las den Brief noch einmal; die Schrift hatte nicht mehr die geschäftsmäßige Festigkeit, die sie früher ausgezeichnet hatte: Sie war größer und zittriger geworden; vielleicht hatte die Krankheit den Vikar doch tiefer gepackt, als er sich eingestehen wollte, vielleicht verbarg er hinter diesen förmlichen Zeilen die Sehnsucht, seinen letzten Verwandten noch einmal zu sehen. Philip schrieb zurück, er könnte im Juli für zwei Wochen nach Blackstable kommen. Die Einladung kam ihm gelegen; er hatte sowieso nicht gewusst, was er in seinen kurzen Ferien unternehmen sollte. Die Athelnys gingen im September in die Hopfenernte, aber man konnte ihn im Geschäft zu der Zeit nicht entbehren, da gerade während dieses Monats die Herbstmodelle vorbereitet werden mussten.
Bei Lynn galt die Regel, dass jeder zwei Wochen Urlaub nehmen musste, ob er wollte oder nicht; wenn er nicht wusste, wo er hingehen sollte, konnte der Gehilfe weiter in seinem Zimmer schlafen, aber zu essen bekam er nichts. Eine Anzahl von Leuten hatte keine Bekannten in vernünftiger Entfernung von London, und für diese war der Urlaub eine seltsame Unterbrechung, weil sie sich von dem schmalen Lohn ernähren mussten, den ganzen Tag Zeit hatten, aber nichts ausgeben durften.
Philip war seit dem Urlaub mit Mildred in Brighton vor zwei Jahren nicht mehr aus London herausgekommen und sehnte sich nach frischer Luft und der Stille des Meeres. Er dachte den ganzen Mai und Juni mit so viel leidenschaftlichem Verlangen daran, dass er schließlich, als er endlich wegfahren konnte, schon fast die Lust verloren hatte.
Am letzten Abend fragte Mr. Sampson plötzlich mitten in einem Gespräch über ein paar nicht fertiggestellte Arbeiten:
»Wie viel Lohn bekommen Sie eigentlich?«
»Sechs Shilling.«
»Das ist aber nicht genug. Ich will mich darum kümmern, dass Sie nach Ihrer Rückkehr zwölf erhalten.«
»Vielen Dank«, sagte Philip lächelnd. »Es wird auch dringend nötig, dass ich mir ein paar neue Sachen anschaffe.«
»Wenn Sie weiter tüchtig arbeiten und nicht mit den Mädchen anbandeln wie viele, dann können Sie sich auf mich verlassen, Carey. Sie haben selbstverständlich noch manches zu lernen, aber Sie sind begabt, ja, das muss man Ihnen lassen, begabt sind Sie. Ich werde schon dafür
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