Der Menschen Hoerigkeit
gut, wie man es den Umständen entsprechend erwarten kann«, antwortete Dr. Wigram auf Philips Nachfrage.
»Ist etwas ernsthaft mit ihm nicht in Ordnung?«
»Nun, Philip, Ihr Onkel ist schließlich kein Jüngling mehr«, sagte der Arzt mit einem bedächtigen Lächeln, als wollte er andeuten, dass der Vikar von Blackstable andererseits auch eigentlich kein alter Mann sei.
»Er scheint zu glauben, dass mit dem Herzen etwas nicht in Ordnung ist.«
»Nun ja, mit seinem Herzen bin ich keineswegs zufrieden«, wagte nun der Arzt zu sagen. »Er muss vorsichtig sein, sehr vorsichtig.«
Philip lag die Frage auf der Zunge: Wie lange kann er noch leben? Er fürchtete, diese Frage würde den Arzt schockieren. In so einem Fall war eine Umschreibung eine Sache der Schicklichkeit, aber dann fiel ihm ein, dass der Arzt wahrscheinlich gewohnt war, dass die Verwandten eines kranken Menschen ungeduldig waren. Er musste ihre mitfühlende Ausdrucksweise durchschauen. Philip schlug mit einem Lächeln über seine eigene Heuchelei die Augen nieder.
»Aber er ist doch wohl nicht unmittelbar gefährdet, nicht wahr?«
Diese Art Fragen hasste der Arzt. Wenn man sagte, ein Patient habe nur noch einen Monat zu leben, bereitete sich die Familie auf den Verlust vor, und wenn dann der Patient weiterlebte, suchten sie ihn wieder auf und beschwerten sich, sie wären unnötigerweise geängstigt worden. Sagte man, der Patient würde noch ein Jahr leben, und er starb die folgende Woche, würde die Familie sagen, dass man von seinem Beruf nichts verstünde. Sie dachten dann an all die Liebesdienste, die sie dem Verstorbenen erwiesen hätten, hätten sie gewusst, dass sein Ende so nah war. Er machte eine Bewegung, als wüsche er sich die Hände.
»Ich glaube nicht, dass eine ernsthafte Gefahr besteht – wenigstens nicht, wenn es so bleibt, wie es ist«, wagte er schließlich zu äußern. »Andererseits darf man jedoch nicht vergessen, dass er kein Jüngling mehr ist, und, nun ja, jede Maschine nützt sich einmal ab. Wenn er dieser Hitze standhält, sehe ich nicht ein, warum er nicht bis zum Winter durchhalten sollte, und wenn der Winter ihn nicht gar zu sehr mitnimmt, besteht eigentlich kein Grund, dass ihm etwas zustößt.«
Philip kehrte in das Esszimmer zurück, in dem sein Onkel sich aufhielt. Er sah grotesk aus, wie er dasaß, mit dem Hauskäppchen auf dem Schädel und dem gehäkelten Schal um die Schultern. Er hatte die ganze Zeit den Blick auf die Tür geheftet; er forschte in Philips Gesicht, als er eintrat.
»Nun, was hat er über mich gesagt?«
Philip erkannte plötzlich, dass sich der alte Mann vor dem Sterben fürchtete. Ihn überkam ein Gefühl der Scham, und er sah unwillkürlich weg. Die Schwächen der menschlichen Natur machten ihn immer verlegen.
»Er findet, es geht dir viel besser«, sagte er.
Die Augen seines Onkels hellten sich vor Freude auf.
»Ich habe eine großartige Konstitution«, sagte er. »Was hat er denn sonst noch gesagt?«, fügte er plötzlich misstrauisch hinzu.
Philip lächelte.
»Er hat gesagt, es gebe überhaupt keinen Grund, warum du nicht hundert Jahre alt werden solltest, wenn du auf dich achtgibst.«
»Ich glaube nicht, dass ich das erwarten darf. Aber warum sollte ich nicht achtzig werden? Meine Mutter starb erst mit vierundachtzig Jahren.«
Neben Mr. Careys Stuhl stand ein Tischchen, auf dem die Bibel und ein großes Gebetbuch lagen, aus denen er all die Jahre seinen Hausgenossen vorzulesen pflegte. Er streckte die zitternde Hand aus und griff nach der Bibel.
»Die alten Patriarchen da, die erreichten alle ein schönes Alter, nicht wahr?«, sagte er mit einem seltsamen Auflachen, dem Philip einen schüchternen Stoßseufzer herauszuhören vermochte.
Der alte Mann klammerte sich an das Leben. Trotzdem glaubte er alles, was die Religion ihn gelehrt hatte. Er zweifelte nicht an der Unsterblichkeit der Seele, und er hatte das Gefühl, dass er sich im Rahmen seiner Möglichkeiten gut genug betragen hatte, um in den Himmel zu kommen. Wie vielen Sterbenden hatte er in seiner langen Dienstzeit schon den Trost der Religion gespendet? Vielleicht erging es ihm, wie es gemeinhin den Ärzten geht, die auch kein Rezept gegen die eigenen Leiden haben. Philip verwirrte und schockierte dieses begierige Festhalten an der Welt. Er fragte sich, was für ein namenloses Grauen im Kopf des alten Mannes existieren musste. Gerne hätte er seine Seele erforscht, um die schreckliche Angst vor dem Ungewissen in
Weitere Kostenlose Bücher