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Der Menschen Hoerigkeit

Der Menschen Hoerigkeit

Titel: Der Menschen Hoerigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W. Somerset Maugham
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es ihm ganz gut zu gehen«, meinte Philip.
    »Ich halte ihn nur noch künstlich am Leben; aber das geht auf die Dauer nicht. Diese letzten beiden Tage waren schrecklich; mehr als ein halbes Dutzend Mal habe ich schon geglaubt, er sei tot.«
    Der Doktor schwieg ein paar Minuten; aber am Gartentor wandte er sich plötzlich nochmals an Philip und sagte:
    »Hat Mrs.   Foster mit Ihnen gesprochen?«
    »Wieso?«
    »Diese Leute sind sehr abergläubisch; sie hat so eine Idee, dass er noch etwas mit sich herumträgt und dass er nicht sterben kann, ehe er es losgeworden ist. Er bringt es nicht über sich, es zu beichten.«
    Philip antwortete nicht, und der Arzt fuhr fort:
    »Natürlich ist das barer Unsinn. Er hat ein sehr gutes Leben geführt: Er hat seine Pflicht getan, er ist seiner Gemeinde ein guter Priester gewesen, der uns sehr fehlen wird – ich wüsste nicht, was er sich vorzuwerfen haben könnte. Ich bezweifle, dass der nächste Vikar auch nur halb so gut in unsere Gemeinde passen wird.«
    Während der nächsten Tage trat keinerlei wesentliche Veränderung in Mr.   Careys Befinden ein. Sein bis dahin ausgezeichneter Appetit ließ nach, und er konnte nur noch wenig zu sich nehmen. Dr.   Wigram zögerte nicht mehr, die Nervenschmerzen, die den Greis so quälten, zu beruhigen. Die Mittel und das beständige Zittern der gelähmten Glieder schwächten den Vikar allmählich bis zur Erschöpfung. Sein Geist blieb klar. Philip und Mrs.   Foster pflegten ihn abwechselnd. Mrs.   Foster war durch die monatelange Pflege, bei der sie ihm jeden Wunsch erfüllt hatte, so ermüdet, dass Philip darauf bestand, selbst die Nachtwache bei dem Patienten zu übernehmen, damit sie ihren Schlaf bekam. Er brachte die langen Nachtstunden im Armstuhl zu, um nicht fest einzuschlafen, und las beim Licht der verhängten Kerze Tausendundeine Nacht. Er hatte die Märchen, seit er ein kleiner Junge war, nie wieder gelesen, und sie versetzten ihn in die Tage seiner Kindheit zurück. Manchmal saß er still da und lauschte auf die Geräusche der Nacht. Sobald die Wirkung des Opiats nachließ, wurde Mr.   Carey unruhig und hielt Philip ständig auf den Beinen.
    Endlich, an einem frühen Morgen, als die Vögel lärmend in den Bäumen zu schwatzen begannen, hörte er seinen Namen rufen. Er ging zum Bett hinüber. Mr.   Carey lag auf dem Rücken, seine Augen waren zur Stubendecke gerichtet, er schaute Philip nicht an. Philip sah, dass seine Stirn mit Schweiß bedeckt war, nahm ein Handtuch und wischte sie trocken.
    »Bist du es, Philip?«, fragte der alte Mann.
    Philip war bestürzt, denn die Stimme des Kranken klang plötzlich völlig verändert. Sie war heiser und leise. Das war die Stimme eines Menschen, den die Angst gepackt hatte.
    »Ja – möchtest du etwas?«
    Eine Pause trat ein; die blicklosen Augen blieben starr auf die Decke gerichtet. Dann zuckte es in dem Gesicht.
    »Ich glaube, ich sterbe jetzt«, sagte er.
    »Ach, Unsinn!«, rief Philip. »Du hast noch jahrelang Zeit, ehe du stirbst.«
    Zwei Tränen entrangen sich den Augen des Greises. Sie rührten Philip fürchterlich. Sein Onkel hatte in Lebensdingen nie ein besonderes Gefühl verraten. Es war schrecklich, nun diese Tränen zu sehen; denn sie verrieten ein unaussprechliches Entsetzen.
    »Lass Mr.   Simmonds kommen«, sagte er. »Ich möchte das Abendmahl empfangen.«
    Mr.   Simmonds war Hilfsgeistlicher.
    »Jetzt gleich?«, fragte Philip.
    »Bald, oder es wird zu spät sein.«
    Philip ging fort, um Mrs.   Foster zu wecken. Aber es war bereits später, als er gedacht hatte, und sie war schon wach. Er wies sie an, den Gärtner zum Geistlichen zu schicken, und kehrte in das Zimmer seines Onkels zurück.
    »Hast du nach Mr.   Simmonds gesandt?«
    »Ja.«
    Schweigen.
    Philip saß neben dem Bett und tupfte immer wieder die mit Schweißperlen bedeckte Stirn des Kranken trocken.
    »Lass mich deine Hand halten, Philip«, sagte der alte Mann schließlich.
    Philip reichte sie ihm, und er klammerte sich daran fest, als hielte er sich dadurch am Leben. Er suchte Trost in seinem Todeskampf. Vielleicht hatte er in seinem ganzen Leben niemanden geliebt; jetzt aber wandte er sich instinktiv an ein menschliches Wesen. Seine Hand war feucht und kalt. Sie hielt sich an Philips mit schwacher, aber verzweifelter Kraftanstrengung fest. Der alte Mann kämpfte mit der Todesangst. Philip musste daran denken, dass jeder so etwas durchstehen musste. Wie schrecklich das war! Und doch gab es Menschen, die

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