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Der Menschen Hoerigkeit

Der Menschen Hoerigkeit

Titel: Der Menschen Hoerigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W. Somerset Maugham
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ein Brief in die Hände, der mit Helen unterschrieben war. Er kannte die Schrift nicht. Es war eine dünne, eckige, altmodische Handschrift. Es begann mit »Mein lieber William« und endete mit »Deine Dich liebende Schwägerin«. Dann wurde ihm plötzlich bewusst, dass es ein Brief seiner Mutter war. Er hatte bisher noch nie einen Brief von ihr gesehen, und ihre Handschrift war ihm fremd. Der Inhalt des Briefes betraf ihn selbst:
Mein lieber William!
Stephen hat Dir schon geschrieben, um Dir für Deine guten Wünsche zur Geburt unseres Sohnes und für mein Wohlbefinden zu danken. Ich danke Gott, dass es uns beiden gutgeht, und bin von Herzen dankbar für die große Gnade, die mir widerfahren ist. Jetzt, wo ich wieder imstande bin, eine Feder zu halten, möchte ich Dir und der lieben Louisa sagen, wie dankbar ich Euch für alle Eure Freundlichkeiten bin, die Ihr mir jetzt und seit meiner Heirat habt angedeihen lassen. Darf ich Euch nun um eine große Gunst bitten: Stephen und ich möchten, dass Du die Patenschaft über den Jungen übernimmst. Hoffentlich willigst Du ein. Ich weiß, ich bitte um nichts Geringes, da Du die Verantwortung, die das mit sich bringt, sehr ernst nehmen wirst; aber es liegt mir besonders viel daran, dass Du dieses Amt übernimmst, weil Du ein Geistlicher bist und zugleich der Onkel des Jungen. Das Wohlergehen des Knaben liegt mir sehr am Herzen, und ich bitte Gott Tag und Nacht, dass er ihn zu einem guten, ehrlichen und christlichen Mann heranwachsen lässt. Ich hoffe, dass er unter Deiner gnädigen Führung ein Soldat des christlichen Glaubens werden möge und dass er an jedem Tage seines Lebens gottesfürchtig, demütig und fromm sei.
Deine Dich liebende Schwägerin Helen
    Philip schob den Brief von sich, beugte sich vor und stützte das Gesicht in die Hände. Der Brief rührte ihn tief und überraschte ihn zugleich. Er war erstaunt über den religiösen Tonfall, der ihm weder rührselig noch sentimental erschien. Er wusste von seiner Mutter, die nun schon seit zwanzig Jahren tot war, nur, dass sie schön gewesen war. Es war ein seltsames Gefühl zu erfahren, dass sie einfachen Herzens und fromm gewesen war. Er hatte daran nie gedacht. Er las noch einmal, was sie über ihn schrieb, von ihm erwartete und über ihn dachte. Es war sehr anders gekommen: Er nahm sich selbst einen Augenblick unter die Lupe. Vielleicht war es besser, dass sie tot war. Dann riss er, einem plötzlichen Impuls folgend, den Brief entzwei. Die Zärtlichkeit und Schlichtheit, die daraus sprach, machte ihn zu einer ganz privaten Sache; es war fast unanständig, ihn zu lesen, wie seine Mutter dort ihre zarte Seele entblößte. Er fuhr mit der Sichtung der langweiligen Korrespondenz des Vikars fort.
    Ein paar Tage darauf kehrte er nach London zurück. Nach zwei Jahren betrat er nun wieder zum ersten Mal die Eingangshalle des St.   Luke’s Hospital bei vollem Tageslicht. Er sprach bei dem Sekretär der Medizinischen Abteilung vor, der erstaunt war, ihn zu sehen, und neugierig fragte, was er denn in der Zwischenzeit getrieben habe. Philips Erfahrungen hatten ihm ein gewisses Selbstvertrauen und eine neue Einstellung zu den Dingen gegeben. Eine solche Frage hätte ihn früher in Verlegenheit gebracht; nun aber antwortete er nur kühl und unbestimmt, um jede weitere Erkundigung zu unterbinden, dass er das Studium aus privaten Gründen habe unterbrechen müssen. Er würde jetzt gern so schnell wie möglich zum Abschluss kommen. Zuerst wollte er sein Examen als Geburtshelfer und Frauenarzt machen. Er schrieb sich also als Praktikant in der Abteilung für Frauenleiden ein. Da es mitten in den Ferien war, war es nicht schwer, einen Platz als Praktikant für Geburtshilfe zu erhalten, und er vereinbarte, dass er diese Aufgabe während der letzten August- und der beiden ersten Septemberwochen übernehmen werde. Nach dieser Besprechung schlenderte Philip durch die Medical School, die mehr oder weniger verlassen dalag, denn die Examen, die jeweils am Ende des Sommers stattfanden, waren bereits vorüber. Dann ging er den Fluss entlang. Sein Herz war erfüllt. Nun würde ein neues Leben beginnen; alle Fehler, Narrheiten und Jämmerlichkeiten der Vergangenheit würde er hinter sich lassen. Der dahinströmende Fluss schien ihm zu zeigen, dass alles vorübergeht, weiterfließt, dass alles eins und gleichgültig ist. Vor ihm lag die Zukunft voll reicher Möglichkeiten.
    Er fuhr nach Blackstable zurück und beschäftigte sich damit, die

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