Der Menschen Hoerigkeit
stand neben seinem Bett bereit. Er nahm sie normalerweise um drei oder vier Uhr morgens. Es wäre einfach, die Dosis zu verdoppeln, er würde in der Nacht sterben, und niemand würde einen Verdacht schöpfen, denn Dr. Wigram erwartete, dass er auf diese Weise sterben würde. Das Ende wäre schmerzlos. Philip ballte die Fäuste, wenn er an das Geld dachte, das er so notwendig brauchte. Ein paar Monate elenden Lebens weniger würden für den alten Mann nichts bedeuten, aber ihm bedeuteten sie alles. Er war mit seiner Geduld am Ende, und wenn er daran dachte, dass er morgen wieder an die Arbeit gehen musste, schauderte ihn. Sein Herz schlug schneller bei dem Gedanken, den er nicht mehr loswerden konnte, obwohl er ihn aus seinem Sinn verdrängen wollte. Es wäre so leicht, so unglaublich leicht. Er brachte dem alten Mann keine Gefühle entgegen, er hatte ihn nie gemocht; er war sein Leben lang egoistisch gewesen, egoistisch gegenüber seiner Frau, die ihn bewunderte, gleichgültig gegenüber dem Jungen, der seiner Obhut anvertraut worden war; er war kein grausamer Mann, aber ein dummer, harter Mann mit wenig Einfühlungsvermögen. Es wäre einfach, schrecklich einfach. Philip wagte es nicht. Er fürchtete sich vor seinem Gewissen; es nützte nichts, das Geld zu haben, wenn er dafür sein ganzes Leben lang bereuen müsste, was er getan hatte. Obwohl er sich oft sagte, dass Reue nichtig wäre, gab es doch Dinge, die ihm gelegentlich einfielen und ihn beunruhigten. Er wünschte, sie würden nicht an seinem Gewissen nagen.
Der Onkel schlug die Augen auf. Philip war froh, denn wach sah er etwas menschlicher aus. Er war selbst ganz entsetzt über den Gedanken, mit dem er sich soeben herumgeschlagen hatte. Das war Mord. Ob wohl auch andere Leute solche Ideen hatten, oder war nur er solcher unnatürlicher Gefühle fähig, so verkommen? Er tröstete sich damit, dass er es ja doch nie in die Tat umgesetzt hätte; aber der Gedanke war da und kam immer wieder: Wenn er es nicht ausführte, dann doch nur, weil er Angst hatte.
»Du wünschst doch nicht, dass ich bald sterbe, Philip?«, fragte ihn sein Onkel.
Philip fühlte, wie ihm das Herz gegen die Rippen klopfte:
»Lieber Gott – nein!«
»Das ist brav. Es hätte mich gekränkt, wenn du es tätest. Du wirst etwas Geld bekommen, wenn ich sterbe; aber du solltest nicht ungeduldig darauf warten. Es würde dir nichts Gutes bringen.«
Er sprach mit leiser Stimme; Angst lag darin. Es fuhr Philip wie ein Stich durchs Herz. Er fragte sich, durch welche innere Einsicht der alte Mann wohl die seltsamen Begierden im Herzen seines Neffen erahnt hatte.
»Ich hoffe, du wirst noch zwanzig Jahre lang leben«, sagte er.
»Das kann ich wohl kaum erwarten; aber wenn ich auf mich achte, wüsste ich nicht, warum ich nicht noch drei, vier Jahre aushalten sollte.«
Eine Weile schwieg er. Philip wusste nicht, was er hätte sagen können. Dann sagte der alte Mann, als hätte er alles noch einmal überdacht:
»Jeder hat das Recht, so lange zu leben, wie er nur irgend kann.«
Philip wollte ihn ablenken.
»Übrigens, von Miss Wilkinson hast du wohl nichts mehr gehört?«
»Doch, ich habe dieses Jahr einen Brief von ihr bekommen. Sie ist jetzt verheiratet.«
»Ach, wirklich?«
»Ja, sie hat einen Witwer geheiratet. Soviel ich weiß, geht es ihnen recht gut.«
111
Am nächsten Tag nahm Philip seine Arbeit wieder auf; aber das Ende traf nicht, wie er es eigentlich erwartet hatte, innerhalb weniger Wochen ein. Aus Wochen wurden Monate. Der Winter ging vorüber, und die Bäume in den Parks setzten Knospen an, aus denen Blätter wurden. Eine große Mattigkeit überkam Philip. Die Zeit verging, und obwohl sie wie mit bleiernen Füßen schlich, fühlte er doch, dass mit ihr seine Jugend dahinging. Bald würde sie ihm entglitten sein, und noch war nichts erreicht. Die Arbeit kam ihm jetzt, da er wusste, dass er sie eines Tages würde aufgeben können, noch sinnloser vor. Er erwarb sich eine gewisse Geschicklichkeit im Entwerfen von Kostümen; obwohl er keine originellen Einfälle hatte, verstand er es doch, die französischen Modelle dem englischen Markt anzupassen. Manchmal gefielen ihm seine Zeichnungen ganz gut; aber dann wurden sie stets in der Ausführung verpfuscht. Es belustigte ihn, dass es ihn dann doch ärgerte, wenn seine Ideen nicht ordentlich ausgeführt wurden. Er musste schlau zu Werke gehen. Jedes Mal, wenn er einen wirklich eigenen Einfall vorbrachte, lehnte Mr. Sampson ihn
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