Der Menschen Hoerigkeit
war und dass ihr die Augen vor Schlafmangel fast zufielen. Er deutete deshalb seinem Onkel an, dass er sie vielleicht zu stark beanspruche.
»Ach, Unsinn«, sagte der Vikar, »sie ist stark wie ein Pferd.«
Als sie das nächste Mal ins Zimmer kam, um ihm seine Arznei zu verabreichen, sagte er:
»Der junge Herr meint, Sie haben zu viel Arbeit, Mrs. Foster. Sie betreuen mich doch gern, nicht?«
»Oh, das macht nichts. Ich möchte ja gern alles tun, was ich kann.«
Bald darauf tat die Arznei ihre Wirkung, und Mr. Carey schlief ein. Philip ging in die Küche und fragte Mrs. Foster, ob sie denn die viele Arbeit aushalte. Er sah ihr an, dass sie seit Monaten nicht zur Ruhe gekommen war.
»Nun, Sir, was soll ich machen?«, antwortete sie. »Der arme alte Herr braucht mich so dringend. Wenn er auch manchmal recht schwierig ist, so muss man ihn doch gernhaben, nicht wahr? Ich bin jetzt schon so viele Jahre hier, ich weiß gar nicht, was aus mir werden soll, wenn er einmal fort ist.«
Philip merkte, dass sie den alten Mann wirklich gernhatte. Sie wusch ihn, zog ihn an, reichte ihm das Essen und stand wohl ein halbes Dutzend Mal jede Nacht auf. Sowie er nachts erwachte, bimmelte er mit seiner kleinen Glocke und ruhte nicht eher, als bis sie zu ihm kam. Er konnte jeden Augenblick sterben, aber es konnte auch sein, dass er noch monatelang weiterlebte. Es war wirklich wunderbar, dass sie einen Fremden mit solch zärtlicher Geduld betreute, und es war zugleich tragisch und mitleiderregend, dass nur sie, eine Fremde, sich so sehr um ihn sorgte.
Es schien Philip, dass die Religion, die sein Onkel sein Leben lang gepredigt hatte, für diesen nun nur noch eine formale Bedeutung hatte: Jeden Sonntag kam der Kurat und spendete ihm die heilige Kommunion, und er las oft in seiner Bibel, aber es stand fest, dass er sich vor dem Tod fürchtete. Er glaubte, dass dieser das Tor zum ewigen Leben sei, aber er wollte nicht in dieses Leben hinüberwechseln. Mit ständigen Schmerzen, an seinen Stuhl gefesselt, aller Hoffnung beraubt, je wieder ins Freie zu kommen, wie ein Kind in den Händen einer Frau, die er bezahlte, hing er an dieser Welt.
In Philips Kopf war eine Frage, die er nicht stellen konnte, weil er wusste, dass sein Onkel nur eine konventionelle Antwort geben würde: Er wollte wissen, ob an dieser Endstation, da die Maschine nur mehr mühsam funktionierte, der Geistliche noch immer an die Unsterblichkeit glaubte. Vielleicht war im Grunde seiner Seele – ohne dass er sich erlaubte, es auszusprechen – die Überzeugung gereift, dass es keinen Gott und kein Leben nach dem Tod gab.
Am Neujahrsabend saß Philip mit seinem Onkel zusammen im Esszimmer. Er musste am nächsten Morgen zeitig aufbrechen, um vor neun im Geschäft zu sein. Er wollte sich gerade von Mr. Carey verabschieden. Der Vikar von Blackstable döste, und Philip, der auf dem Sofa beim Fenster lag, ließ das Buch sinken und schaute sich im Zimmer um. Er fragte sich, wie viel die Möbel wohl einbringen konnten. Er war im Haus umhergewandert und hatte die Sachen, die er seit seiner Kindheit kannte, betrachtet. Ein paar Porzellansachen waren da, die vielleicht eine höhere Summe einbringen würden; Philip überlegte, ob es sich wohl lohnte, sie mit nach London zu nehmen. Die Möbel waren viktorianischer Stil, schwere, hässliche Mahagonigebilde; bei einer Versteigerung würden sie für so gut wie nichts weggehen. Drei- bis viertausend Bücher waren außerdem noch vorhanden. Aber es war eine bekannte Tatsache, dass Bibliotheken sich schlecht verkaufen ließen; aller Wahrscheinlichkeit nach würde man nicht mehr als hundert Pfund dafür bekommen. Philip wusste nicht, wie viel sein Onkel hinterlassen würde, und er rechnete sich zum hundertsten Mal aus, was er mindestens bräuchte, um den Turnusdienst im Krankenhaus zu beenden, sein Diplom zu bekommen und während der Krankenhauspraxis leben zu können. Philip betrachtete den Greis, der unruhig schlief. In diesem zerknitterten Gesicht war nichts Menschliches mehr: Es war das Gesicht eines seltsamen Tieres. Er dachte, wie leicht es sein müsste, diesem nutzlosen Leben ein Ende zu bereiten. Jeden Abend hatte er daran denken müssen, wenn Mrs. Foster die Arznei für seinen Onkel zurechtmachte, damit er eine ruhige Nacht hätte. Es gab da zwei Flaschen: Die eine enthielt eine Medizin, die er regelmäßig einnahm, die andere ein Opiat, für den Fall, dass die Schmerzen unerträglich wurden. Die nötige Menge
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