Der Menschen Hoerigkeit
an einen Gott glaubten, der es zuließ, dass seine Geschöpfe so grausame Qualen litten. Philip hatte seinen Onkel nie gemocht, zwei Jahre lang hatte er jeden Tag seinen Tod herbeigewünscht, und doch konnte er das Mitgefühl nicht unterdrücken, das ihm jetzt das Herz überschwemmte. Welch einen Preis musste man dafür zahlen, dass man anders war als die Tiere!
Das Schweigen wurde nur einmal durch eine leise Frage von Mr. Carey unterbrochen:
»Ist er noch nicht da?«
Endlich kam die Haushälterin und teilte mit, dass Mr. Simmonds gekommen sei. Er trug eine Tasche bei sich mit seinem Chorhemd und seiner Kappe. Mrs. Foster brachte die Abendmahlsplatte. Mr. Simmonds reichte Philip schweigend die Hand und ging dann mit berufsmäßig ernster Miene zum Krankenbett hinüber. Philip und Mrs. Foster verließen das Zimmer.
Philip wandelte im Garten umher, der taufrisch im Morgen lag. Die Vögel sangen fröhlich. Der Himmel war blau; aber die Luft war salzig, frisch und kühl. Die Rosen standen in voller Blüte. Das Grün der Bäume, das Grün der Rasenflächen – überall funkelte und glitzerte es. Philip ging umher und dachte im Gehen an das Geheimnis, das sich dort in dem Schlafzimmer seines Onkels vollzog. Es bewegte ihn sehr. Es dauerte nicht lange, da kam Mrs. Foster und sagte ihm, dass sein Onkel ihn zu sehen wünsche. Der Geistliche war gerade dabei, seine Sachen wieder in die schwarze Tasche zu packen. Der Kranke drehte Philip langsam das Gesicht zu und begrüßte ihn mit einem Lächeln. Philip war erstaunt, denn eine seltsame Veränderung war mit dem Vikar vorgegangen, eine außerordentliche Veränderung: Seine Augen hatten nicht mehr den entsetzten Ausdruck, und in seinem Gesicht zuckte es nicht mehr – er sah glücklich und heiter aus.
»Nun bin ich bereit«, sagte er, und seine Stimme hatte einen neuen Ton. »Wenn es dem Allmächtigen jetzt gefällt, mich abzuberufen, so bin ich bereit, meine Seele in seine Hände zu geben.«
Philip sprach nicht. Er konnte sehen, dass sein Onkel dies aufrichtig meinte. Es war fast wie ein Wunder. Er hatte den Leib und das Blut des Heilands genossen, und sie hatten ihm Kraft verliehen, so dass er den Gang in die ewige Nacht nicht länger fürchtete. Er wusste, er würde sterben. Er sagte nur noch:
»Ich werde wieder mit meiner lieben Frau vereinigt sein.«
Das überraschte Philip. Er wusste, mit welch selbstsüchtiger Gleichgültigkeit der Vikar sie behandelt hatte, wie stumpf er ihre demütige, hingebungsvolle Liebe aufgenommen hatte. Der Priester ging tief bewegt fort, und Mrs. Foster begleitete ihn weinend zur Tür. Mr. Carey fiel erschöpft durch seine Anstrengung in einen leichten Dämmerschlaf. Philip setzte sich neben das Bett und erwartete das Ende. Der Morgen verging, und das Atmen des alten Mannes wurde zum Röcheln. Der Arzt kam und sagte, er liege im Sterben. Er war bewusstlos und zupfte nur schwach mit den Händen an der Decke; er war unruhig und schrie. Dr. Wigram gab ihm eine Spritze.
»Es hilft nichts mehr, er kann jeden Augenblick sterben.«
Der Arzt schaute auf die Uhr und dann auf den Patienten. Philip sah, dass die Uhr eins zeigte. Dr. Wigram dachte an sein Mittagessen.
»Es hat gar keinen Sinn, dass Sie warten«, meinte Philip.
»Ich kann auch wirklich nichts tun«, sagte der Arzt.
Nachdem er gegangen war, fragte Mrs. Foster Philip, ob er zum Schreiner, der zugleich Leichenbestatter war, gehen wolle und ihm sagen, er solle eine Frau für die Leichenwäsche schicken.
»Sie brauchen etwas frische Luft«, sagte sie. »Es wird Ihnen guttun.«
Der Leichenbestatter wohnte eine halbe Meile entfernt. Als Philip ihm die Nachricht brachte, fragte er:
»Wann starb der arme Mann?«
Philip zögerte. Es ging ihm durch den Kopf, dass es brutal aussehen würde, eine Frau für die Leichenwäsche zu holen, während sein Onkel noch lebte, und er fragte sich, warum Mrs. Foster ihn ersucht hatte zu gehen. Man würde denken, er hätte es recht eilig, den alten Mann loszuwerden. Der Leichenbestatter wiederholte seine Frage. Das irritierte Philip. Es war nicht seine Angelegenheit.
»Wann ist der Vikar verschieden?«
Philip wollte zunächst sagen, es wäre gerade eben geschehen; aber dann fiel ihm ein, dass es völlig unerklärlich wäre, falls der kranke Mann noch mehrere Stunden dahinsiechen würde.
»Ach, er ist eigentlich noch nicht tot.«
Der Leichenbestatter sah ihn verwirrt an, und er beeilte sich, eine Erklärung zu
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