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Der Menschen Hoerigkeit

Der Menschen Hoerigkeit

Titel: Der Menschen Hoerigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W. Somerset Maugham
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in einem sonnigen Zimmer mit zwei Fenstern, die bis zum Boden reichten. Es war das Wohnzimmer eines Hauses, das zwar nicht modern, aber respektabel war: Vor fünfzig Jahren mochte es ein reicher Händler oder ein Offizier bewohnt haben. Herb war Fußballspieler gewesen, bevor er geheiratet hatte, und an den Wänden hingen Fotos der verschiedenen Teams, in selbstbewusster Haltung, mit adrett gekämmtem Haar; der Kapitän saß stolz in der Mitte und hielt den Pokal. Es gab auch noch andere Zeichen von Wohlstand: Fotos von Herbs Verwandten und seiner Frau in Sonntagskleidern; auf dem Kaminsims ein sorgfältiges Arrangement von Muscheln auf einem Miniaturfelsen und auf jeder Seite Krüge, offenbar Urlaubssouvenirs. Herb war fast schon eine Persönlichkeit; er war gegen die Gewerkschaft und äußerte sich empört über deren Versuche, ihn zum Eintritt zu zwingen. Die Gewerkschaft hatte ihm noch nie etwas gebracht, er hatte niemals Schwierigkeiten, Arbeit zu finden, und es gab guten Lohn für jeden, der einen Kopf auf seinen Schultern hatte und alles anpackte, was ihm in den Weg kam. Polly war furchtsam. Wenn sie er wäre, würde sie der Gewerkschaft beitreten; beim letzten Streik hatte sie schon erwartet, dass sie ihn in einem Rettungswagen nach Hause bringen würden. Sie wandte sich an Philip.
    »Er ist so eigensinnig, man kann ihn zu nichts bewegen.«
    »Ich sage, wir leben in einem freien Land, und ich möchte mir nichts vorschreiben lassen.«
    »Es nützt dir nichts, wenn du sagst, dies ist ein freies Land«, sagte Polly. »Das hält sie nicht davon ab, dir den Schädel einzuschlagen, wenn sie die Gelegenheit dazu haben.«
    Als sie fertig waren, reichte Philip Herb seinen Tabaksbeutel, und sie zündeten ihre Pfeifen an. Dann stand er auf, weil ihn bei seiner Wohnung vielleicht ein Notruf erwartete, und sie schüttelten einander die Hände. Er sah, wie glücklich sie waren, weil er mit ihnen gegessen hatte, und sie sahen, wie sehr er sich gefreut hatte.
    »Auf Wiedersehen, Sir«, sagte Herb, »und ich hoffe, wir werden nächstes Mal einen ebenso netten Arzt haben, wenn mein Mädchen wieder so weit ist.«
    »Hör auf, Herb«, versetzte sie. »Woher willst du wissen, dass es überhaupt ein nächstes Mal geben wird?«
    114
     
    Die drei Wochen des Praktikums neigten sich dem Ende zu. Philip hatte zweiundsechzig Fälle behandelt und war übermüdet. Als er in der letzten Nacht etwa um zehn Uhr nach Hause kam, hoffte er von ganzem Herzen, nicht wieder hinausgerufen zu werden. Seit zehn Tagen hatte er keine einzige Nacht durchschlafen können. Der Fall, von dem er gerade gekommen war, war fürchterlich gewesen. Er war von einem großen, starken, sehr betrunkenen Mann geholt worden, der ihn durch einen stinkenden Hof in ein Zimmer führte, das so schmutzig war, wie er noch keines zuvor gesehen hatte: Es war eine kleine Dachstube; der größte Teil war von einem hölzernen Bett mit einem Baldachin aus dreckigen roten Vorhängen ausgefüllt, und die Decke war so niedrig, dass Philip sie mit den Fingerspitzen erreichen konnte. Mit der einzigen Kerze, die vorhanden war, verbrannte er die herumkriechenden Wanzen. Die Frau war eine nachlässige Person in mittleren Jahren, die schon viele Totgeburten gehabt hatte. Es war eine Geschichte, an die Philip schon gewöhnt war: Der Mann war Soldat in Indien gewesen; die Gesetzgebung, die dem Land durch die Prüderie Englands auferlegt worden war, hatte dem Elend und den Krankheiten freien Lauf gelassen, und die Unschuldigen mussten es büßen. Gähnend zog sich Philip aus und nahm ein Bad, dann schüttelte er die Kleider über dem Wasser aus und sah zu, wie das Ungeziefer herausfiel. Er wollte gerade zu Bett gehen, als es an die Tür klopfte und der Portier ihm eine Karte gab.
    »Verflucht«, sagte Philip. »Sie sind der Letzte, den ich heute noch sehen wollte. Wer hat die Karte gebracht?«

»Ich glaube, es war der Gatte, Sir. Soll ich ihn warten lassen?«
    Philip schaute auf die Adresse, sah, dass er die Straße kannte, und sagte dem Portier, er würde allein hinfinden. Er zog sich an, und nach fünf Minuten ging er mit seiner schwarzen Tasche auf die Straße. Ein Mann, den er in der Dunkelheit nicht sehen konnte, kam zu ihm und sagte ihm, er sei der Gatte.
    »Ich dachte, es wäre besser, auf Sie zu warten, Sir«, sagte er. »Wir haben eine ziemlich wilde Nachbarschaft, und sie wissen nicht, wer Sie sind.«
    Philip lachte.
    »Seien Sie beruhigt, alle kennen den Arzt. Ich war schon an

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