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Der Menschen Hoerigkeit

Der Menschen Hoerigkeit

Titel: Der Menschen Hoerigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W. Somerset Maugham
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Harry«, sagte sie. »Ich wusste von Anfang an, dass es so kommen würde.«
    »Schweigen Sie«, sagte Chandler.
    Die Fenster hatten keine Vorhänge, und es wurde langsam hell, noch dämmerte es. Chandler versuchte die Frau mit allen ihm möglichen Mitteln am Leben zu erhalten, aber ihre Lebenskräfte schwanden, und plötzlich starb sie. Der Junge, der ihr Gatte war, stand am Ende des eisernen Bettes, und seine Hände lagen auf der Kante; er blieb stumm; er sah sehr bleich aus, und ein- oder zweimal sah ihn Chandler prüfend an, weil er fürchtete, er würde ohnmächtig werden; seine Lippen waren grau. Die Hebamme schluchzte laut, aber er beachtete sie nicht. Mit den Augen fixierte er seine Frau, man sah ihm die ungeheure Fassungslosigkeit an. Er erinnerte an einen Hund, der für etwas bestraft wurde, von dem er nicht wusste, dass es schlecht war. Als Chandler und Philip ihre Sachen zusammenpackten, drehte sich Chandler zu dem Mann um:
    »Legen Sie sich lieber ein wenig hin. Ich glaube, Sie sind erschöpft.«
    »Wohin soll ich mich legen, Sir?«, antwortete er, und in seiner Stimme lag eine Demut, die einen zum Verzweifeln brachte.
    »Kennen Sie niemanden im Haus, der Ihnen ein Notlager gibt?«
    »Nein, Sir.«
    »Sie sind erst letzte Woche hier eingezogen«, sagte die Hebamme. »Sie kennen noch niemanden.«
    Chandler zögerte einen Augenblick lang unbeholfen, dann ging er zu dem Mann und sagte: »Es tut mir sehr leid, dass es so gekommen ist.«
    Er streckte ihm seine Hand hin, und der Mann schlug ein, nachdem er instinktiv einen Blick auf seine Hand geworfen hatte, ob sie auch sauber sei.
    »Danke, Sir.«
    Auch Philip schüttelte ihm die Hand. Chandler sagte der Hebamme, sie solle am Morgen kommen und den Totenschein abholen. Sie verließen das Haus und gingen schweigend nebeneinander her.
    »Es bringt einen am Anfang etwas aus der Fassung, nicht wahr?«, sagte Chandler schließlich.
    »Ein wenig«, antwortete Philip.
    »Wenn Sie wollen, werde ich dem Portier sagen, Ihnen heute keine Fälle mehr zu überbringen.«
    »Ich bin ab acht Uhr ohnehin außer Dienst.«
    »Wie viele Fälle haben Sie gehabt?«
    »Dreiundsechzig.«
    »Gut. Dann bekommen Sie Ihr Diplom.«
    Sie erreichten das Krankenhaus, und der Arzt ging hinein, um zu sehen, ob ihn jemand wünschte. Den ganzen Tag über war es sehr heiß gewesen, und selbst jetzt, am frühen Morgen, war es schwül. Die Straße war ganz still. Philip wollte noch nicht ins Bett gehen. Es war das Ende seiner Arbeit, und er brauchte sich nicht zu beeilen. Er streifte umher, glücklich über die frische Luft und über die Stille. Er wollte zur Brücke hinübergehen, um am Fluss den Tagesanbruch zu erwarten. Ein Polizist an der Ecke wünschte ihm einen guten Morgen. Wegen der Tasche wusste er, wer Philip war.
    »Diese Nacht noch spät draußen, Sir«, sagte er.
    Philip nickte und ging weiter. Er lehnte sich ans Geländer und wartete auf den Morgen. Um diese Stunde war die große Stadt wie ausgestorben. Der Himmel war wolkenlos, aber die Sterne leuchteten bei Tagesanbruch nur matt. Leichter Nebel lag über dem Fluss, und die großen Gebäude auf der Nordseite sahen wie Paläste auf einer verzauberten Insel aus. Eine Gruppe von Barken lag in der Mitte des Stromes verankert. Alles war unwirklich violett, irgendwie beunruhigend und Ehrfurcht einflößend; aber schnell wurde alles fahl, kalt und grau. Dann ging die Sonne auf; ein goldgelber Strahl schlich sich über den Himmel, und der Himmel begann zu schillern. Philip sah vor seinen Augen noch immer das tote Mädchen auf dem Bett liegen, schmal und bleich, und der Junge stand am Ende des Bettes wie ein geprügeltes Tier. Die Leere des schmutzigen Zimmers machte die Qual noch schlimmer. Es war grausam, dass ein unglücklicher Zufall ihr Leben abgeschnitten hatte, als sie es gerade erst zu leben begann; aber im selben Augenblick überlegte er sich, was das Leben für sie bereitgehalten hätte: Kinderkriegen, den täglichen Kampf gegen das Elend, eine durch Plackerei und Entbehrungen zerstörte Jugend, ein trostloses Alter – er sah das hübsche Gesicht dünn und weiß werden, die Haare ausfallen, die schönen Hände, durch die Arbeit verdorben, wie die Klauen eines alten Tieres werden –, dann, wenn der Mann über seine Jugend hinaus war, die Schwierigkeit, Arbeit zu finden, den schmalen Lohn, mit dem er sich begnügen musste, und die unvermeidliche Armut am Ende; sie konnte energisch, sparsam, fleißig sein, es hätte ihr nichts

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