Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Menschen Hoerigkeit

Der Menschen Hoerigkeit

Titel: Der Menschen Hoerigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W. Somerset Maugham
Vom Netzwerk:
schlimmeren Orten als der Waver Street.«
    Das stimmte. Die schwarze Tasche war gleichsam ein Pass für die ärmlichen Gässchen und übelriechenden Höfe, in die sich nicht einmal ein Polizist hineinwagte. Ein- oder zweimal schaute eine kleine Gruppe von Männern neugierig auf Philip, als er vorbeiging, dann hörte er ein Gemurmel, und einer sagte:
    »Das ist der Arzt aus dem Krankenhaus.«
    Als er an einigen Leuten vorüberging, sagten sie: »Guten Abend, Sir.«
    »Wir müssen uns beeilen, wenn es Ihnen nichts ausmacht, Sir«, sagte der Mann, der ihn hierher begleitet hatte. »Sie haben mir gesagt, es sei keine Zeit zu verlieren.«
    »Warum sind Sie so spät losgegangen?«, fragte Philip und ging rascher. Er schaute den Mann näher an, als sie an einer Laterne vorbeikamen.
    »Sie sind schrecklich jung«, sagte er.
    »Ich bin gerade achtzehn geworden, Sir.«
    Er war blond und hatte kein Haar im Gesicht, er sah aus wie ein Junge; er war klein, aber untersetzt.
    »Sie haben früh geheiratet«, sagte Philip.
    »Wir mussten.«
    »Wie viel verdienen Sie?«
    »Sechzehn, Sir.«
    Sechzehn Shilling pro Woche waren nicht viel, um eine Frau und ein Kind zu versorgen. Das Zimmer, in dem das Paar wohnte, zeugte von ihrer außerordentlichen Armut. Das Zimmer war von mittlerer Größe, wirkte aber ziemlich groß, weil kaum Möbel darin waren. Auf dem Boden lag kein Teppich, an den Wänden hingen keine Bilder; die meisten Zimmer hatten irgendetwas, Fotografien oder Beilagen aus den Weihnachtsnummern der Illustrierten in billigen Rahmen. Die Patientin lag auf einem kleinen billigen Eisenbett. Philip war schockiert, wie jung auch sie noch war.
    »Mein Gott, sie kann nicht älter als sechzehn sein«, sagte er zu der Frau, die zur Unterstützung hereingekommen war.
    Sie hatte auf der Karte ihr Alter mit achtzehn angegeben, aber wenn sie sehr jung waren, pflegten sie oft ein oder zwei Jahre draufzuschlagen. Sie war hübsch, und auch das war ziemlich selten in jenen Klassen, in denen die Gesundheit durch schlechte Ernährung, schlechte Luft und ungesunde Berufe angegriffen wurde; sie hatte zarte Gesichtszüge, große blaue Augen und dichtes dunkles Haar, streng frisiert, in der Art von Lehrmädchen. Sie und ihr Mann waren sehr nervös.
    »Sie sollten besser draußen warten, damit Sie da sind, falls ich Sie brauche«, sagte Philip zu ihm.
    Nun, da ihn Philip besser sah, überraschte ihn seine Jungenhaftigkeit noch mehr; er hätte eigentlich mit Gleichaltrigen dumme Streiche in den Straßen machen sollen, statt ängstlich auf die Geburt eines Kindes zu warten. Die Zeit verstrich, und erst gegen zwei Uhr kam das Baby auf die Welt. Alles schien gutzugehen; der Mann wurde hereingeholt, und Philip war gerührt, wie behutsam und scheu er seine Frau küsste. Philip packte seine Sachen zusammen. Bevor er ging, fühlte er noch mal den Puls der Patientin.
    »Holla!«, sagte er.
    Er sah sie schnell an: Irgendetwas war geschehen. Im Notfall musste der Arzt für Geburtshilfe gerufen werden, der für den Bezirk verantwortlich war. Philip kritzelte eine Notiz, gab sie dem Mann und beauftragte ihn, so schnell wie möglich zum Krankenhaus zu laufen, denn seine Frau sei in äußerster Gefahr. Der Mann rannte davon. Philip wartete. Er wusste, die Frau verblutete, er fürchtete, sie würde sterben, bevor sein Vorgesetzter käme. Er unternahm alles, was er nur konnte. Er hoffte nur, dass der qualifizierte Arzt nicht erst gesucht werden müsste. Das Warten schien endlos. Als er schließlich kam und die Patientin untersuchte, stellte er Philip leise Fragen. Philip konnte aus seinem Gesicht lesen, dass es sehr ernst war. Sein Name war Chandler. Er war ein großer, kurzangebundener Mann mit einem schmalen, faltigen Gesicht. Er schüttelte den Kopf.
    »Es war von Anfang an hoffnungslos. Wo ist der Mann?«
    »Ich habe ihm gesagt, er soll auf der Stiege warten«, sagte Philip.
    »Bringen Sie ihn lieber herein.«
    Philip öffnete die Tür und rief ihn. Er saß im Dunkeln auf der ersten Stufe der Stiege, die zum nächsten Stockwerk führte. Er kam zum Bett.
    »Was ist los?«, fragte er.
    »Es sind innere Blutungen; es ist unmöglich, sie zu stoppen.« Chandler zögerte einen Augenblick, und da es eine schmerzliche Sache war, wurde seine Stimme schroff: »Sie stirbt.«
    Der Mann sagte kein Wort, er blieb ganz still, sah auf seine Frau, die bleich und bewusstlos auf dem Bett lag. Nur die Hebamme wagte zu sprechen.
    »Die Herren haben alles getan, was sie nur konnten,

Weitere Kostenlose Bücher