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Der Menschen Hoerigkeit

Der Menschen Hoerigkeit

Titel: Der Menschen Hoerigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W. Somerset Maugham
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geholfen; am Ende stand das Armenhaus, wenn sich nicht die Kinder ihrer erbarmten. Wer konnte sie bemitleiden, weil sie gestorben war, wenn ihr das Leben so wenig zu bieten hatte?
    Mitleid war sinnlos. Philip fühlte, dass diese Leute es nicht brauchten. Sie bemitleideten sich selbst nicht. Sie akzeptierten ihr Schicksal. Für sie war es die natürliche Ordnung der Dinge. Sonst, guter Gott!, sonst würden sie in ihrer Überzahl über den Fluss drängen, auf die Seite, wo die großen Gebäude waren, sicher und prächtig, und sie würden rauben, niederbrennen und plündern. Aber der Tag war nun zart und blass angebrochen, der Nebel wurde schwächer; er badete alles in weichem Glanz; und die Themse war grau, rosig und grün; grau wie Perlmutt und grün wie das Herz einer gelben Rose. Die Quais und Lagerhallen auf der Surrey-Seite drängten sich in unordentlicher, malerischer Weise zusammen. Die Szene war so schön, dass Philips Herz leidenschaftlich schlug. Er war überwältigt von der Schönheit der Welt. Daneben schien nichts mehr zu zählen.
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    Philip verbrachte die wenigen Wochen, die ihm noch bis zum Anfang des Wintersemesters blieben, in der ambulanten Abteilung und machte sich dann im Oktober an die reguläre Arbeit. Er war so lange vom Hospital fort gewesen, dass er sich inmitten fremder Leute wiederfand. Die verschiedenen Semester hatten wenig miteinander zu tun; von seinem eigenen Jahrgang waren fast alle approbiert, einige hatten Assistentenstellen in Landkrankenhäusern und Spitälern angenommen und andere Anstellung im St.   Luke’s Hospital gefunden. Es kam ihm vor, als hätten ihn die zwei Jahre, während deren sein Geist brachgelegen hatte, erfrischt; jedenfalls war er imstande, mit Kraft und Energie zu arbeiten.
    Die Athelnys waren selig, dass Philips Schicksal diese glückliche Wendung genommen hatte. Er behielt ein paar Sachen seines Onkels vor dem Verkauf zurück und machte ihnen allen Geschenke. Er schenkte Sally eine goldene Kette, die seiner Tante gehört hatte. Sally war jetzt erwachsen. Sie arbeitete als Lehrmädchen bei einer Schneiderin und ging jeden Morgen um acht Uhr aus dem Haus, um in einem Laden in der Regent Street den ganzen Tag über zu nähen. Sally hatte helle blaue Augen, eine breite Stirn und dichtes, leuchtendes Haar. Sie war ein dralles Mädchen mit breiten Hüften und kräftigen Brüsten; ihr Vater, der gern über ihr Äußeres redete, warnte sie ständig, nicht zu dick zu werden. Sie hatte eine starke Anziehungskraft, weil sie gesund war wie ein junges Tier und sehr weiblich. Sie hatte viele Verehrer; aber das beeindruckte sie nicht besonders: Man hatte den Eindruck, dass sie Liebeleien für Unsinn hielt, und konnte sich wohl vorstellen, dass die jungen Männer sie unnahbar fanden. Sally war für ihr Alter schon beinahe zu erwachsen; sie war daran gewöhnt, ihrer Mutter im Haushalt und bei der Betreuung der Kinder zu helfen, und das hatte zur Folge, dass sie gerne die Leitung übernahm und auch so wirkte. Ihre Mutter meinte manchmal, Sally neige ein bisschen zu sehr dazu, alles nach ihrem Kopf einrichten zu wollen. Sie redete nicht viel; aber mit zunehmendem Alter schien sie einen Sinn für Humor zu entwickeln. Eine gelegentliche Bemerkung ließ ahnen, dass sie unter ihrem unbeweglichen Äußeren voll von überquellender Belustigung über ihre lieben Mitmenschen war. Philip fand, dass sich zwischen ihr und ihm niemals die zärtliche Vertrautheit einstellte, die zwischen ihm und den übrigen Mitgliedern der riesigen Athelny-Familie bestand. Hin und wieder ärgerte ihn Sallys Gleichgültigkeit ein wenig. Sie war irgendwie rätselhaft.
    Als Philip ihr das Halskettchen brachte, wollte der Vater unbedingt, dass sie ihn küsste; Sally errötete jedoch und wich zurück.
    »Nein, das tue ich nicht«, sagte sie.
    »Undankbares Ding!«, rief Athelny. »Warum nicht?«
    »Ich lass mich nicht gern von Männern küssen«, war die Antwort.
    Philip sah, wie verlegen sie war, und lenkte belustigt Athelnys Aufmerksamkeit auf etwas anderes. Das funktionierte immer problemlos. Aber offenbar machte auch die Mutter ihrer Tochter Vorhaltungen; denn als Philip das nächste Mal kam, nahm Sally, als sie ein paar Minuten mit ihm allein war, die Gelegenheit wahr und sagte:
    »Sie haben es hoffentlich nicht für ungehörig gehalten, dass ich Sie vorige Woche nicht küssen wollte?«
    »Nicht im Geringsten«, wehrte er lachend ab.
    »Sie dürfen nicht glauben, ich sei undankbar.« Sie errötete

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