Der Menschen Hoerigkeit
was man für die hatte, die schon da waren. Philip erkannte bei ihnen oft den Wunsch, dass das Kind tot geboren oder bald sterben würde. Er entband eine Frau von Zwillingen (eine Ironie des Schicksals), und als die Frau dies hörte, brach sie in ein langes und schrilles Wehgeschrei aus. Ihre Mutter sagte offen:
»Ich weiß nicht, wie sie die füttern werden.«
»Möge der Herr einsichtig sein und sie zu sich rufen«, meinte die Hebamme.
Philip beobachtete das Gesicht des Mannes, als dieser auf das winzige Paar blickte, das Seite an Seite lag; er erschrak über dessen finstere und grimmige Miene. In der ganzen Familie fühlte er die versteckte Ablehnung gegen diese armen Würmer, die ungewollt auf die Welt gekommen waren; und er hatte den Verdacht, dass ein ›Unfall‹ geschehen könnte, wenn er ihnen nicht eindringlich zuredete. Unfälle passierten oft; Mütter wickelten ihre Kinder zu fest ein, und möglicherweise waren auch Ernährungsfehler nicht immer das Ergebnis von Nachlässigkeit.
»Ich werde jeden Tag kommen«, sagte er. »Ich warne Sie, wenn ihnen irgendetwas passiert, wird es zu einer gerichtlichen Untersuchung kommen.«
Der Vater antwortete nicht, aber er sah Philip finster an. In seiner Seele stand Mord zu lesen.
»Ihre kleinen Herzen seien gesegnet«, sagte die Großmutter. »Was soll ihnen denn passieren?«
Die größte Schwierigkeit bestand darin, die Mutter zehn Tage lang im Bett zu halten – dem Minimum, auf das der Arzt bestehen musste. Es machte Umstände, sich um die Familie zu kümmern, niemand wollte ohne Bezahlung nach den Kindern sehen, und der Mann ärgerte sich, weil sein Tee nicht zubereitet war, wenn er müde und hungrig von der Arbeit nach Hause kam. Philip hatte gehört, dass die Armen einander helfen, aber eine Frau nach der anderen erklärte ihm, dass sie niemanden finden könne, der ohne Bezahlung aufräumte oder sich um das Essen für die Kinder kümmerte, und ihre Mittel erlaubten es nicht zu zahlen. Wenn er den Frauen zuhörte, durch zufällige Bemerkungen, aus denen sich viele Schlüsse auf Ungesagtes ziehen ließen, stellte er fest, dass es zwischen den Armen und der Oberschicht wenig Gemeinsames gab. Die Armen beneideten die Höhergestellten nicht, weil die Unterschiede zu groß waren; und ihr Freiheitsideal ließ ihnen die Lebensweise der Mittelklasse steif und förmlich erscheinen: Darüber hinaus hatten sie für diese eine gewisse Verachtung, weil sie verweichlicht war und nicht mit den Händen arbeitete. Die Stolzen unter ihnen wollten nur in Ruhe gelassen werden, aber die Mehrzahl sah die Begüterten als Leute an, die es auszubeuten galt. Sie wussten, was sie sagen mussten, um Almosen zu bekommen, und sie betrachteten Wohltaten als Recht, das sie von der Dummheit der Höhergestellten und ihrer eigenen Schlauheit ableiteten. Sie behandelten die Geistlichen mit verächtlicher Gleichgültigkeit, aber die Fürsorgerin hassten sie. Sie kam herein und öffnete die Fenster, ohne zu sagen ›Mit Ihrer Erlaubnis‹ oder ›Wenn Sie es gestatten‹ – »für mich mit meiner Bronchitis könnte das den Tod bedeuten«. Sie steckte ihre Nase in alle Ecken, und wenn sie auch nicht sagte, dass es dreckig sei, so wusste man genau, was sie dachte, »und das ist alles recht und schön, wenn man Dienstboten hat, aber ich möchte sehen, was sie aus ihrem Zimmer machen würde, wenn sie vier Kinder hätte, kochen, ihre Kleider flicken und sie waschen müsste«.
Philip entdeckte, dass die größte Tragödie für diese Leute nicht Tod oder Trennung war, das war natürlich, und der Schmerz konnte mit Tränen gelindert werden, sondern der Verlust des Arbeitsplatzes. Er hatte einen Mann getroffen, der eines Nachmittags, drei Tage nach der Entbindung seiner Frau, nach Hause kam und ihr sagte, er sei entlassen worden. Er war Bauarbeiter, und in dieser Zeit war der Arbeitsmarkt gerade flau. Er stellte die Tatsache fest und setzte sich dann zum Tee.
»O Jim«, sagte sie.
Der Mann aß stumpf irgendein Gericht, das für ihn in der Bratpfanne geschmort worden war; er starrte auf seinen Teller; die Frau sah ihn zwei- oder dreimal an, mit furchtsamen Blicken, dann begann sie ganz leise zu weinen. Der Bauarbeiter war ein grobschlächtiger Kerl mit rauhem, verwittertem Gesicht und einer langen, weißen Narbe auf seiner Stirn; er hatte große, derbe Hände. Plötzlich schob er den Teller beiseite, als wollte er sich nicht länger zum Essen zwingen, und warf einen starren Blick aus dem Fenster. Das
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