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Der Menschen Hoerigkeit

Der Menschen Hoerigkeit

Titel: Der Menschen Hoerigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W. Somerset Maugham
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sehnte sich danach, wieder ein Junge zu sein, einer derer, die er jetzt im Schulhof sah, so dass er noch einmal von neuem beginnen, seine Fehler vermeiden und etwas Besseres aus seinem Leben machen könnte. Er fühlte sich unerträglich einsam. Er bedauerte fast, dass die Armut der letzten zwei Jahre nun vorüber war; denn dieser verzweifelte Kampf, Körper und Seele zusammenzuhalten, hatte den Schmerz des Lebens betäubt. ›Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot verdienen‹: Es war kein Fluch, der der Menschheit auferlegt war, sondern der Balsam, der sie mit dem Dasein versöhnte.
    Aber Philip wurde ungeduldig mit sich. Er rief sich ins Gedächtnis, dass das Leben ein Muster ist: Auch die unglücklichen Stunden sind nur ein Teil dieses kunstvollen und schönen Musters. Er sagte sich, dass er mit heiterer Gelassenheit alles hinnehmen müsse, den Kummer wie die erhebenden Erlebnisse, Freude und Schmerz; denn alles diente dazu, das Muster reich und vielfältig zu gestalten. Er suchte bewusst nach dem Schönen und erinnerte sich, wie er schon als Knabe an der gotischen Kathedrale, die man vom Schulhof aus sah, Freude empfunden hatte. Er ging hin und schaute sich die schwere Masse an, grau unter dem bewölkten Himmel, mit dem Mittelturm, der sich wie die Lobpreisung Gottes selbst erhob. Aber die Jungen um ihn spielten mit ihren Bällen; sie waren geschmeidig, stark und voller Tatendrang. Er konnte ihre Schreie, ihr Gelächter nicht überhören. Nur noch seine Augen nahmen nun die Schönheit des Bauwerkes vor ihm wahr. Der Ruf der Jugend war eindringlich und beharrlich.
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    Zu Beginn der letzten Augustwoche trat Philip seine Arbeit im ›Bezirk‹ an. Es war anstrengend, denn er hatte durchschnittlich drei Entbindungen täglich. Die Patientin bekam einige Zeit vorher vom Krankenhaus eine Karte, und wenn ihre Zeit kam, ließ sie diese dem Portier durch einen Boten bringen, meist einem kleinen Mädchen, das dann über die Straße zu dem Haus geschickt wurde, in dem Philip wohnte. In der Nacht kam der Portier, der einen Haustorschlüssel hatte, selbst hinüber und weckte Philip auf. Es war geheimnisvoll, in der Dunkelheit aufzustehen und durch die verlassenen Straßen von Süd-London zu gehen. In diesen Stunden brachte normalerweise der Gatte die Karte. Wenn er schon einige Kinder hatte, war er meist mürrisch und gleichgültig, aber wenn er jung verheiratet war, wurde er nervös und versuchte manchmal, seine Angst in Alkohol zu ertränken. Manchmal musste Philip eine Meile oder weiter gehen; in dieser Zeit diskutierte Philip mit dem Boten über die Arbeitsbedingungen oder Lebenshaltungskosten. Philip lernte dabei die verschiedenen Berufe kennen, die auf dieser Seite des Flusses ausgeübt wurden. Er flößte den Menschen Vertrauen ein, unter die es ihn verschlagen hatte, und während der langen Stunden, die er in einem dunklen Zimmer wartete und die Frau in ihrem riesigen Bett lag, das das halbe Zimmer ausfüllte, sprachen ihre Mutter und die Hebamme mit ihm so ungezwungen, als unterhielten sie sich untereinander. Seine Umstände der letzten zwei Jahre hatten ihn Verschiedenes über das Leben der Armen gelehrt, und diese freuten sich, dass er für sie Verständnis hatte, und sie waren beeindruckt, dass er sich von ihnen nicht hinters Licht führen ließ. Er war freundlich, er hatte weiche Hände, und er verlor niemals die Fassung. Es gefiel ihnen, dass er sich nicht zu gut war, um mit ihnen eine Tasse Tee zu trinken, und wenn es dunkel wurde und sie noch immer warteten, boten sie ihm ein Brot mit Bratenfett an; er war nicht heikel und aß die meisten Dinge mit großem Appetit. Einige der Häuser, in die er kam, drängten sich aneinander, ohne Licht und Luft, und waren sehr schmutzig; aber andere hatten erstaunlicherweise doch eine gewisse Würde, obwohl sie verfallen waren, wurmstichige Böden und undichte Dächer hatten. Man fand darin aus Eichenholz geschnitzte Balustraden, und die Wände waren tapeziert. Diese Häuser waren dicht bevölkert. In jedem Zimmer wohnte eine Familie, und tagsüber hörte man den unaufhörlichen Lärm der Kinder, die im Hof spielten. Die alten Wände waren Brutstätten für Ungeziefer, die Luft war so stickig, dass Philip oft seine Pfeife anzündete, weil ihm übel wurde. Die Leute, die hier wohnten, lebten von der Hand in den Mund. Babys waren nicht willkommen, die Männer reagierten mit Zorn, die Frauen mit Verzweiflung; ein Mund mehr zu füttern, und es war wenig genug,

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