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Der Menschen Hoerigkeit

Der Menschen Hoerigkeit

Titel: Der Menschen Hoerigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W. Somerset Maugham
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gesehen, und das ging noch. Es war langweilig, aber nicht schlimm. Siegfried aber! Bei der Erwähnung legte er seinen Kopf auf seine Hand und brüllte vor Lachen. Nicht eine einzige Melodie, von Anfang bis zum Ende! Er konnte sich vorstellen, wie Richard Wagner in seiner Loge saß und sich die Seiten hielt vor Lachen über all die Menschen, die ihn ernst nahmen. Es war der schlechteste Witz des neunzehnten Jahrhunderts. Er hob das Glas Bier an seine Lippen, warf den Kopf in den Nacken und trank, bis das Glas leer war. Dann wischte er seinen Mund mit dem Handrücken ab und sagte:
    »Hört auf mich, ihr jungen Leute! In zwanzig Jahren ist Wagner tot wie ein Stück Holz. Wagner! Alles, was er geschrieben hat, gebe ich für eine einzige Oper von Donizetti!«
    25
     
    Am merkwürdigsten von allen war Philips Französischlehrer. Monsieur Ducroz stammte aus Genf. Er war ein großer alter Mann mit fahler Haut und hohlen Wangen; sein graues Haar war dünn und lang. Er trug einen schäbigen schwarzen Anzug mit durchlöcherten Ellbogen und ausgefransten Hosen. Seine Kleidung war sehr schmutzig. Philip hatte nie einen sauberen Kragen an ihm gesehen. Er war ein Mann von wenigen Worten, der seine Lektion gewissenhaft, aber ohne Enthusiasmus erteilte. Pünktlich mit dem Glockenschlag erschien er, und auf die Minute genau ging er wieder. Sein Honorar war sehr niedrig. Er war verschlossen, und was Philip von ihm wusste, hatte er von andern erfahren; es hieß, er habe unter Garibaldi gegen den Papst gekämpft, aber Italien angewidert wieder verlassen, als sich herausstellte, dass all sein Streben nach Freiheit, worunter er die Errichtung einer Republik verstand, bloß zur Unterwerfung unter ein anderes Joch geführt hatte; später war er wegen irgendeines politischen Vergehens, von dem man nichts Näheres wusste, aus Genf ausgewiesen worden. Philip betrachtete ihn voll verwundertem Staunen, denn er entsprach in keiner Weise seiner Vorstellung von einem Revolutionär: Er redete sehr leise und war außerordentlich höflich; er setzte sich niemals unaufgefordert hin, und wenn man ihm, was selten geschah, auf der Straße begegnete, zog er formvollendet den Hut; er lachte niemals, ja er lächelte nicht einmal.
    Eine stärker entwickelte Phantasie, als Philip sie hatte, wäre imstande gewesen, sich eine Jugend mit großen Hoffnungen auszumalen, denn Monsieur Ducroz musste 1848 das Mannesalter erreicht haben, als die Könige – eingedenk ihrer Brüder in Frankreich – ängstlich und mit steifem Hals umhergingen. Vielleicht hatte der leidenschaftliche Drang nach Freiheit, der Europa durchzog und alles wegfegte, was an Absolutismus und Tyrannei nach der Revolution von 1789 erneut geherrscht hatte, kein Herz mit heißerem Feuer erfüllt als seines. Man konnte ihn sich vorstellen, wie er sich für die Theorien der Gleichheit und der Menschenrechte erhitzte, diskutierte, argumentierte, hinter den Barrikaden von Paris kämpfte, vor der österreichischen Kavallerie in Mailand floh, eingesperrt wurde, verbannt wurde, aber seine Hoffnungen nicht aufgab aufgrund des einen magischen Wortes: Freiheit. Bis er sich zuletzt, gebrochen durch Krankheit und Hunger, alt und mittellos, in jener netten kleinen Stadt wiederfand, unter dem Joch einer persönlichen Tyrannei, wie es in Europa keine größere jemals gab. Vielleicht verbarg sich hinter seiner Schweigsamkeit Verachtung für das menschliche Geschlecht, das die großen Träume seiner Jugend aufgegeben hatte und nun in trägem Behagen dahinlebte; vielleicht hatten ihn dreißig Jahre der Revolution gelehrt, dass die Menschheit für die Freiheit nicht geschaffen ist und dass er sein Leben für etwas eingesetzt hatte, das den Kampf nicht wert ist. Vielleicht auch waren seine Kräfte erschöpft, und er wartete nunmehr mit Gleichgültigkeit auf das erlösende Ende.
    Eines Tages fragte ihn Philip mit der Unverblümtheit seines Alters, ob es wahr sei, dass er mit Garibaldi gekämpft habe. Der alte Mann schien der Frage keine besondere Wichtigkeit beizumessen. Er antwortete ruhig und leise wie gewöhnlich:
    »Oui, monsieur.«
    »Man sagt auch, dass Sie während der Kommune in Paris waren?«
    »So, sagt man das? Lassen Sie uns weiterarbeiten.«
    Er hielt ihm das geöffnete Buch hin, und Philip begann eingeschüchtert zu übersetzen.
    Eines Tages schien Monsieur Ducroz große Schmerzen zu haben. Er war kaum imstande, sich die vielen Treppen zu Philips Zimmer hinaufzuschleppen; oben angekommen, ließ er sich

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