Der Menschen Hoerigkeit
spielte den Hochzeitsmarsch, und der Professor schmetterte Die Wacht am Rhein. Inmitten all dieser Fröhlichkeit schenkte Philip dem Neuankömmling wenig Beachtung. Beim Abendessen hatten sie einander gegenübergesessen, aber Philip war in ein eifriges Gespräch mit Fräulein Hedwig vertieft gewesen, während der Fremde, des Deutschen nicht mächtig, schweigend sein Essen verzehrte. Er trug eine blassblaue Krawatte, was Philip sofort mit einer heftigen Abneigung gegen ihn erfüllte. Er war ein Mann von sechsundzwanzig Jahren, sehr hübsch, mit langem lockigem Haar, durch das er von Zeit zu Zeit nachlässig mit der Hand fuhr. Seine Augen waren groß und blau, aber von einem sehr matten Blau, und blickten schon jetzt ziemlich müde. Er war glatt rasiert und hatte trotz seiner schmalen Lippen einen wohlgeformten Mund. Fräulein Anna interessierte sich sehr für Physiognomie und machte Philip darauf aufmerksam, wie wohlgebildet Haywards Schädel war und wie schwach dagegen die untere Hälfte seines Gesichtes. Der Kopf, bemerkte sie, war der Kopf eines Denkers, aber dem Kinn fehlte Charakter. Fräulein Anna, die mit ihren hohen Wangenknochen und ihrer großen schiefen Nase zu einem Leben als alte Jungfer bestimmt schien, legte großen Wert auf Charakter. Während sie von ihm sprachen, stand er ein wenig abgesondert da und betrachtete die lärmende Gesellschaft mit belustigtem, aber leicht hochmütigem Ausdruck. Er war groß und schlank. Seine Haltung hatte eine bewusste Anmut. Weeks, einer von den amerikanischen Studenten, trat, als er ihn so allein stehen sah, auf ihn zu und fing an, mit ihm zu sprechen. Die beiden bildeten ein seltsam kontrastierendes Paar: der Amerikaner, sehr ordentlich in seinem schwarzen Rock und seinen graugesprenkelten Hosen, dünn und ausgetrocknet, schon jetzt etwas Salbungsvoll-Kirchliches im Wesen, und der Engländer in seinem losen Tweedanzug, langgliedrig und kultiviert in jeder Bewegung.
Philip kam erst am nächsten Tag mit dem Neueingetroffenen ins Gespräch. Sie fanden sich vor dem Mittagessen allein auf dem Balkon des Salons. Hayward sprach Philip an:
»Sie sind Engländer, nicht wahr?«
»Ja.«
»Ist das Essen immer so schlecht wie gestern Abend?«
»Ungefähr.«
»Abscheulich, nicht?«
»Ja, abscheulich.«
Philip hatte bisher nichts an dem Essen auszusetzen gehabt, sondern im Gegenteil mit Appetit und Freude große Mengen davon verzehrt, aber er wollte nicht den Eindruck erwecken, er könnte ein gutes Essen nicht von einem schlechten unterscheiden.
Wegen Fräulein Theklas Englandaufenthalt musste ihre Schwester mehr im Haushalt mithelfen, und sie hatte daher nur selten für längere Spaziergänge Zeit; und Fräulein Cäcilie, mit ihrem langen blonden Zopf und ihrer kleinen Stupsnase, hatte seit einiger Zeit eine gewisse Abneigung gegen Geselligkeit an den Tag gelegt. Fräulein Hedwig war abgereist, und Weeks, der Amerikaner, der gewöhnlich an ihren Wanderungen teilnahm, hatte sich auf eine Reise durch Süddeutschland begeben. Philip war viel allein. Hayward suchte seine Bekanntschaft. Aber Philip hatte eine unglückselige Eigenschaft; aus Schüchternheit oder aus atavistischer, noch vom Höhlenbewohner überlieferter Eigenbrötlerei lehnte er beim ersten Kontakt die meisten Menschen ab. Erst wenn er sich an jemanden gewöhnt hatte, gelang es ihm, seinen ersten Eindruck zu überwinden. Das machte ihn äußerst unzugänglich. Er begegnete Haywards Annäherungsversuchen sehr zurückhaltend, und als dieser ihn eines Tages zu einem Spaziergang einlud, sagte er nur deshalb zu, weil ihm keine passende Ausrede einfallen wollte. Verärgert über sich selbst wegen seines Errötens, das er nicht kontrollieren konnte, und bemüht, es mit einem Lachen zu überspielen, fügte er die übliche Entschuldigung hinzu.
»Ich kann leider nicht besonders schnell gehen.«
»Guter Gott, es treibt uns ja niemand an. Ich gehe auch lieber gemächlich. Erinnern Sie sich nicht an das Kapitel in Marius, in dem Pater davon spricht, dass die sanfte Körperbetätigung des Gehens der beste Anreiz für eine Unterhaltung ist?«
Philip war ein guter Zuhörer; zwar fielen ihm häufig kluge Dinge ein, aber zumeist erst dann, wenn die Gelegenheit, sie vorzubringen, bereits verstrichen war; Hayward hingegen war mitteilsam; jemand Erfahrenerer als Philip wäre vielleicht auf den Gedanken gekommen, dass er sich gern selbst reden hörte. Seine überlegene Art machte großen Eindruck auf Philip. Es imponierte ihm und
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