Der Menschen Hoerigkeit
handeln, wie man will – weil wir eine demokratische Nation sind. Ich vermute, in Amerika ist es noch schlimmer.«
Er lehnte sich vorsichtig zurück, denn der Stuhl, auf dem er saß, hatte ein wackliges Bein, und es wäre peinlich, den rhetorischen Schwung seiner Rede durch einen plötzlichen Sturz auf den Boden zu stören.
»Eigentlich müsste ich dieses Jahr nach England zurückkehren, aber wenn ich genug zum Leben zusammenkratzen kann, bleibe ich noch weitere zwölf Monate. Dann aber muss ich gehen und all dies verlassen« – mit einer Geste umfasste er die schmutzige Dachkammer mit ihrem ungemachten Bett, den auf dem Boden herumliegenden Kleidern, den Stößen ungebundener, zerschlissener Bücher in jeder Ecke, den leeren Bierflaschen, die längs der Wand aufgereiht standen –, »um an irgendeiner Provinzschule Philologie zu unterrichten. Und ich werde Tennis spielen und Tee trinken.« Er stockte und warf Philip, der sehr sorgfältig gekleidet war, mit sauberem Kragen und ordentlich gebürstetem Haar, einen launischen Blick zu. »Und ich werde mich waschen müssen. Guter Gott!«
Philip errötete schuldbewusst, denn er hatte in der letzten Zeit angefangen, seiner Kleidung eine gewisse Aufmerksamkeit zu schenken, und war mit einer hübschen Auswahl von Krawatten von England weggefahren.
Der Sommer kam über das Land wie ein Eroberer.
Jeder Tag war schön. Der Himmel hatte ein herausforderndes Blau, das die Nerven aufpeitschte. Das Grün der Bäume war grell und aufdringlich, und die Häuser leuchteten, wenn die Sonne sie beschien, so weiß, dass es schmerzte. Auf dem Heimweg von Wharton setzte sich Philip manchmal auf eine Bank in der Anlage, freute sich über die Kühle und vertiefte sich in die Lichtmuster, die die Sonne durch das Blätterwerk auf den Boden malte. Seine Seele tanzte so fröhlich wie die Sonnenstrahlen. Manchmal schlenderte er durch die Straßen der alten Stadt. Mit Ehrfurcht betrachtete er die Studenten der Burschenschaften mit ihren zersäbelten roten Wangen und ihren bunten Mützen. Am Nachmittag wanderte er mit den jungen Mädchen der Pension ins Freie, und manchmal wurde in einem schattigen Biergarten am Fluss Tee getrunken. Abends promenierte man im Stadtgarten umher und hörte der Musikkapelle zu.
Philip erfuhr bald von den verschiedenen Interessen seiner Mitbewohner. Thekla, die älteste Tochter des Professors, war mit einem Mann in England verlobt, der zwölf Monate in der Pension verbracht hatte, um Deutsch zu lernen. Die Hochzeit sollte Ende des Jahres stattfinden. Aber der junge Mann schrieb, dass sein Vater, ein Gummifabrikant, mit dieser Verbindung nicht einverstanden sei, und Thekla war oft in Tränen aufgelöst. Manchmal sah man sie und ihre Mutter beisammensitzen und mit strengen Augen und entschlossenem Mund die Briefe des widerstrebenden Liebhabers durchgehen. Thekla malte Aquarelle, und sie und Philip zogen gelegentlich miteinander ins Freie und malten kleine Bildchen. Auch das hübsche Fräulein Hedwig hatte ihren Liebeskummer. Sie war die Tochter eines Berliner Geschäftsmannes, und ein schneidiger Husar, ein ›von‹ bitte schön, hatte sich in sie verliebt; aber seine Eltern widersetzten sich einer Heirat mit einem Mädchen ihres Standes, und Hedwig wurde nach Heidelberg geschickt, um ihn zu vergessen. Aber davon konnte natürlich niemals, niemals die Rede sein. Sie fuhr fort, mit ihm zu korrespondieren. Er seinerseits ließ nichts unversucht, um seinen hartherzigen Vater umzustimmen. All dies erzählte sie Philip mit hübschen Seufzern und anmutiger Verschämtheit und zeigte ihm die Fotografie des schmucken Leutnants. Philip mochte sie am liebsten von all den Mädchen im Haus und trachtete bei Spaziergängen stets, an ihrer Seite zu bleiben. Er musste deshalb viele Neckereien über sich ergehen lassen und quittierte sie mit heftigem Erröten. Fräulein Hedwig machte er die erste Liebeserklärung seines Lebens, aber unglücklicherweise war es ein Versehen und kam auf folgende Weise zustande. An den Abenden, an denen man nicht ausging, pflegten die Mädchen in dem grünsamtenen Salon Lieder vorzutragen, begleitet von Fräulein Anna, die immer bereit war, sich nützlich zu machen. Fräulein Hedwigs Lieblingslied hieß Ich liebe dich. Eines Abends nun, nachdem sie es gesungen hatte, stand sie, in den Nachthimmel blickend, mit Philip auf dem Balkon. Er glaubte, etwas über das Lied sagen zu müssen – und begann:
»Ich liebe dich –«
Sein Deutsch war unsicher,
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