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Der Menschen Hoerigkeit

Der Menschen Hoerigkeit

Titel: Der Menschen Hoerigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W. Somerset Maugham
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und er suchte nach dem passenden Wort. Die Pause war sehr kurz, aber ehe er noch fortfahren konnte, sagte Fräulein Hedwig:
    »Ach, Herr Carey, Sie sollten nicht ›du‹ zu mir sagen.«
    Philip wurde über und über rot, denn nie im Leben hätte er eine solche Vertraulichkeit gewagt. Er wusste sich nicht zu helfen. Den Sachverhalt wahrheitsgemäß aufzuklären wäre ungalant gewesen. Was sollte er antworten?
    »Entschuldigen Sie«, brachte er schließlich hervor.
    »Es ist weiter nicht schlimm«, flüsterte sie.
    Sie lächelte ihm freundlich zu, nahm still seine Hand, drückte sie und ging dann in den Salon zurück.
    Am nächsten Tag war er so verlegen, dass er nicht mit ihr sprechen konnte und in seiner Schüchternheit alles tat, um ihr aus dem Weg zu gehen. Als man ihn zu dem gewohnten Spaziergang aufforderte, schützte er Arbeit vor und lehnte ab. Aber Fräulein Hedwig suchte eine Gelegenheit, ihn allein zu sprechen.
    »Warum benehmen Sie sich so merkwürdig?«, fragte sie freundlich. »Ich bin Ihnen doch nicht böse wegen gestern Abend. Können Sie etwas dafür, dass Sie mich lieben? Ich fühle mich sogar sehr geschmeichelt. Aber wenn ich auch noch nicht offiziell mit Hermann verlobt bin, sehe ich mich doch als seine Braut an und werde nie einen anderen lieben können.«
    Philip errötete abermals und gab sich alle Mühe, nicht aus der Rolle des abgewiesenen Liebhabers zu fallen.
    »Ich hoffe, dass Sie sehr glücklich werden«, sagte er nur.
    24
     
    Professor Erlin gab Philip jeden Tag eine Stunde Unterricht. Er stellte eine Liste der Bücher auf, die Philip lesen musste, bis er bereit war für das größte aller Werke, den Faust. In der Zwischenzeit ließ er ihn ein Stück von Shakespeare, das Philip in der Schule durchgenommen hatte, ins Deutsche übersetzen.
    Es war damals in Deutschland die Zeit von Goethes höchstem Ruhm. Ungeachtet seiner eher herablassenden Haltung gegenüber Patriotismus wurde er als Nationaldichter angesehen, und seit dem Krieg im Jahre 1870 galt er als einer der bedeutendsten Vertreter der nationalen Einheit. Die Schwärmer vermeinten in der Wildheit der Walpurgisnacht das Rattern der Artillerie in Gravelotte zu hören. Aber ein Beweis der Größe eines Schriftstellers ist es, dass unterschiedlich denkende Menschen unterschiedliche Inspirationen bei ihm finden können; und Professor Erlin, der die Preußen hasste, war ein leidenschaftlicher Bewunderer Goethes, dessen Werke in ihrer olympischen Gelassenheit einem gesunden Geist die einzige Zuflucht gegenüber dem Ansturm der neuen Generation zu bieten schienen. Es gab einen Dramatiker, dessen Name neuerdings in Heidelberg häufig zu hören war, und im vergangenen Winter war unter dem Beifall seiner Anhänger und dem Protest der anständigen Leute eines seiner Stücke im Theater aufgeführt worden. Philip hörte an dem langen Pensionstisch viele Diskussionen darüber, bei denen Professor Erlin jedes Mal seine gewohnte Ruhe verlor. Er schlug mit der Faust auf den Tisch und erstickte mit seiner kraftvollen, tiefen Stimme jegliche Opposition. Das Ganze war Unsinn, und obszöner Unsinn obendrein. Er hatte sich gezwungen, bis zum Schluss sitzen zu bleiben, wusste aber wahrhaft nicht, was stärker gewesen war: seine Langeweile oder sein Ekel. Wenn es dahin kommen sollte mit dem Schauspiel, dann war es höchste Zeit, dass die Polizei einschritt und die Theater schloss. Er war nicht prüde – nein – und konnte wie jeder andere über eine geistreiche Frivolität lachen. Aber dies war Schmutz und nichts weiter. Und mit vielsagender Geste hielt er sich die Nase zu und pfiff durch die Zähne; das war der Ruin der Familie, das Ende aller Moral, die Zerstörung Deutschlands.
    »Aber Adolf«, rief Frau Professor vom andern Ende des Tisches herüber. »Beruhige dich doch.«
    Er drohte ihr mit der Faust, er, sonst der sanfteste aller Ehemänner, der nie das Geringste unternommen hätte, ohne ihren Rat einzuholen.
    »Nein, Helene, das sage ich dir«, brüllte er, »lieber sähe ich meine Töchter tot zu meinen Füßen liegen, als dass ich ihnen erlaubte, dem Geschwätz dieses schamlosen Gesellen zuzuhören.«
    Das Stück, um das es sich handelte, hieß Ein Puppenheim, der Autor war Henrik Ibsen.
    Professor Erlin stellte ihn auf eine Stufe mit Richard Wagner, aber von diesem sprach er nicht mit Zorn, sondern mit gutmütigem Spott. Er war ein Scharlatan, aber ein erfolgreicher Scharlatan.
    »Ein verrückter Kerl!«, sagte er.
    Er hatte Lohengrin

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