Der Menschen Hoerigkeit
musste nicht mehr lügen.
Professor Erlin unterrichtete ihn im Deutschen und Lateinischen, und jeden Tag kam ein Franzose, der ihm Französischstunden gab. Für Mathematik hatte Frau Professor Erlin einen Engländer empfohlen, der an der Universität Philologie studierte. Sein Name war Wharton. Philip ging jeden Vormittag zu ihm. Er wohnte im obersten Stockwerk eines schäbigen Hauses, wo er ein Zimmer gemietet hatte. Es war sehr schmutzig und unordentlich und erfüllt von einem beißenden, aus vielen üblen Düften zusammengesetzten Geruch. Wharton lag gewöhnlich noch im Bett, wenn Philip um zehn Uhr erschien, sprang dann schnell auf, zog einen schmierigen Schlafrock und ein paar Filzpantoffeln an und nahm, während er unterrichtete, sein einfaches Frühstück zu sich. Er war ein kleiner Mann, dick vom übermäßigen Biergenuss, mit einem gewaltigen Schnurrbart und langem, ungekämmtem Haar. Er lebte seit fünf Jahren in Deutschland und war sehr teutonisch geworden. Voll Abscheu dachte er an das Leben, das ihn erwartete, wenn er nach abgelegtem Doktorat nach England zurückkehren und seine pädagogische Laufbahn antreten müsste. Er liebte das Leben an einer deutschen Universität wegen der glücklichen Freiheiten und der lustigen Kameradschaft. Er gehörte einer Burschenschaft an und versprach, Philip mit in eine Kneipe zu nehmen. Er war sehr arm und machte keinen Hehl daraus, dass die Stunden, die er gab, sein warmes Mittagessen bedeuteten. Manchmal, nach einer stürmischen Nacht, hatte er solche Kopfschmerzen, dass er seinen Kaffee nicht trinken und nur mit größter Überwindung seine Lektion geben konnte. Für diese Gelegenheiten hielt er ein paar Flaschen Bier unterm Bett bereit, die ihm zusammen mit seiner Pfeife über die Schwere des Daseins hinweghalfen.
»Etwas verkatert heute«, pflegte er dann zu sagen, während er das Bier behutsam einschenkte, damit ihn der Schaum nicht zu lange am Trinken hinderte.
Dann erzählte er Philip von der Universität, den Streitigkeiten zwischen den rivalisierenden Korps, den Mensuren und den Verdiensten dieses oder jenes Professors. Philip erfuhr mehr vom Leben als von der Mathematik. Manchmal lehnte sich Wharton lachend zurück und rief:
»Heute haben wir wirklich rein gar nichts getan. Sie brauchen mir die Lektion nicht zu bezahlen.«
»Ach, das spielt doch keine Rolle«, sagte Philip.
Hier war etwas Neues und höchst Interessantes, und es erschien ihm weit wichtiger als alle Trigonometrie, die er ohnehin nicht verstand. Es war, als wäre ihm durch ein Fenster ein Blick auf das Leben gewährt, und er beobachtete mit wild klopfendem Herzen.
»Nein, nein, behalten Sie Ihr schmutziges Geld«, sagte Wharton.
»Aber was wird aus Ihrem Mittagessen?«, fragte Philip, der genau über die Finanzen seines Lehrers unterrichtet war, lächelnd.
Wharton hatte ihn sogar gebeten, ihm die zwei Shilling pro Lektion wöchentlich statt monatlich auszuzahlen, das sei doch weniger kompliziert.
»Ach, es ist nicht das erste Mal, dass ich meinen Hunger mit einer Flasche Bier gestillt habe, und nie ist mein Kopf klarer als gerade dann.«
Und er tauchte unter das Bett – die Laken waren grau und ungewaschen – und fischte eine zweite Flasche hervor. Philip, der jung war und die guten Dinge des Lebens noch nicht zu schätzen wusste, lehnte dankend ab, sie mit ihm zu teilen, und so trank er allein.
»Wie lange wollen Sie hierbleiben?«, fragte Wharton.
Sowohl er wie Philip hatten den Vorwand der Mathematik mit Erleichterung über Bord geworfen.
»Ach, ich weiß nicht, vielleicht ein Jahr. Dann soll ich nach Oxford gehen.«
Wharton zuckte verächtlich die Achseln, und Philip stellte mit Erstaunen fest, dass es Menschen gab, die ohne Ehrfurcht von diesem Sitz der Weisheit sprachen.
»Warum sollten Sie dort hin? Da sind Sie nur ein besserer Schuljunge. Warum studieren Sie nicht hier? Ein Jahr ist gar nichts. Fünf Jahre müssen Sie bleiben. Es gibt zwei wertvolle Dinge im Leben: Freiheit des Denkens und Freiheit des Handelns. In Frankreich herrscht Handlungsfreiheit: Man kann machen, was man will, und niemand kümmert sich darum, aber man muss denken wie alle anderen. In Deutschland muss man machen, was jeder andere macht, aber man kann denken, was einem beliebt. Beides hat seine Annehmlichkeit. Ich persönlich ziehe Gedankenfreiheit vor. In England hat man weder das eine noch das andere; man ist in Konventionen gezwängt. Man kann nicht denken, wie man will, und man kann nicht
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