Der Menschenraeuber
Kinder bekommen und zusehen, wie sie aufgeht wie ein Hefeteig? Der schönen Amanda würde die Welt offenstehen, hätte sie nur den Mut, nach Rom, Mailand oder wenigstens nach Florenz zu gehen. Es würde gar nicht lange dauern, ein paar Tage vielleicht, in denen sie nichts weiter tun müsste, als in den Straßen zu flanieren. Irgendwann würde sie sicher ein Regisseur oder Fotograf entdecken, Fellini, Visconti oder Pasolini hatten ja auch hin und wieder ihre Schauspielermusen auf der Straße gesucht und gefunden.
Aber die schöne Amanda blieb im Valdambra. Sie arbeitete im Alimentariladen, verkaufte Pecorino und Prosciutto, Brot, Gemüse, Obst und Waschpulver, und der Laden war immer voll. Manch einer der alten Männer, die zwölf Stunden auf der Piazza saßen, ihr zerfurchtes Gesicht in die Sonne hielten und sich Geschichten von Mussolini erzählten, betrat das Geschäft ohne Not und ohne Auftrag seiner Frau, um ihr unvergleichliches Lächeln zu sehen, wenn sie »Buongiorno« zur Begrüßung, oder »Prego« sagte, wenn sie hundert Gramm Salami oder ein Viertelpfund Stracchino über den Tresen reichte. Und jeder glaubte an seine ganz persönliche Favoritenrolle, wenn sie ihm zum Abschied nachwinkte.
Die schöne Amanda war Ambras Sonnenschein, das Salz in dem Einheitsbrei der Dorffeste, wenn sie die Panzanella rührte, und ein leibhaftiger Engel, wenn sie im weihnachtlichen Krippenspiel die Maria gab. Niemand war makelloser und sanftmütiger als sie, keine hatte einen frommeren Blick. Als Amanda nach Sofias Geburt die Maria nicht mehr spielen wollte, wurde das Krippenspiel abgeschafft.
Amanda war die Unvergleichliche, die Einzigartige, und wahrscheinlich gab es keinen jungen Mann in der Gegend, der nachts nicht von ihr träumte und sich nach ihr verzehrte.
Sie aber hatte nur Augen für einen drahtigen, beinah mageren Mann mit einem Leberfleck auf der linken Schläfe und dichten dunklen Wimpern, die sie unwiderstehlich fand. Er war wesentlich älter als sie und ein richtiger Mann, kein Junge wie die anderen, mit denen sie sich sonntags auf der Piazza traf. Er hieß Riccardo Valentini und konnte wie kein anderer Trecker mit Anhängern rückwärts in die engsten Einfahrten rangieren, Raupenfahrzeuge an steilen Hängen bewegen und Maschinen aller Art nicht nur bedienen, sondern auch reparieren. Wenn er kurz vor Einbruch der Dunkelheit mit einem riesigen Trecker vorbeikam, da er für Mario Heuballen transportierte, rannte sie durchs Dorf bis zur Hauptstraße, um ihm zuzuwinken. Zuerst wunderte es ihn, dann winkte er zurück, und nach einer Woche wagte er es, sie anzusprechen.
»Ich kenne dich«, fing er vorsichtig an. »Du arbeitest im Alimentari.«
»Ich kenne dich auch«, antwortete sie und schenkte ihm ihr sensationelles Lächeln. »Manchmal seh ich dich auf dem Trecker oder mit der Ruspa.«
»Am Samstag ist Lorenzo-Fest in Rapale. Kommst du mit?«
»Hm«, sagte sie und strahlte. Dann rief sie noch: »Bis Samstag!«, und rannte zurück ins Geschäft.
Von nun an waren die beiden unzertrennlich. Sie trafen sich jeden Abend, gingen ins Kino, fuhren nach Arezzo und saßen Hand in Hand die halbe Nacht unter den Arkaden der Piazza Grande, zählten die Sternschnuppen, die vom Himmel fielen, wünschten sich heimlich beide dasselbe oder lagen sich in den Armen, wenn sie sich unbeobachtet fühlten.
Riccardo konnte sein Glück kaum fassen. Die begehrteste Frau des Valdambra hatte sich ausgerechnet in ihn verliebt. Seine Kumpel und Kollegen begegneten ihm von nun an mit beachtlichem Respekt, man munkelte, er müsse ein ›Kunststück‹ können, schließlich sei er weder der Reichste noch der Schönste.
Riccardo ließ sie reden, und sie planten ihre Hochzeit.
Vier Stunden später fuhr Jonathan mit einem dunkelgrünen, zwölf Jahre alten und an mehreren Stellen verbeulten Fiat hinter Riccardo her. Er hatte noch ein halbes Jahr TÜV, keinerlei Extras, aber einen Vierradantrieb. Damit konnte Jonathan La Passerella leicht erreichen. Er hatte ihn für eintausendzweihundert Euro erstanden und konnte bei dem Händler sogar mit Kreditkarte bezahlen, was die Angelegenheit erleichterte. Riccardo regelte die Formalitäten mit Steuer und Versicherung für ihn, und Jonathan fühlte sich so frei und glücklich wie kurz nach dem Abitur, als er seinen ersten gebrauchten Käfer bekommen hatte.
Auf dem Rücksitz lagen zwei Tüten mit den nötigsten Lebensmitteln für die nächsten paar Tage, die er im Supermarkt in Bucine gekauft
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