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Der Menschenraeuber

Der Menschenraeuber

Titel: Der Menschenraeuber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
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Nachthemd.
    Sie schrie leise auf. »Lass mich«, schluchzte sie, drückte sich an ihrer Mutter vorbei und huschte die Treppe hinauf zu ihrem Zimmer.
    So war das also. Amanda hätte es sich eigentlich denken können. Schon am ersten Abend war es offensichtlich gewesen, und ganz sicher war der Kerl nur geblieben, um ihre Tochter ins Bett zu bekommen.
    Aber so nicht. Nicht mit Amanda. Da hatte er sich verrechnet.
     
    Der nächste Morgen war strahlend schön und wolkenlos. Auf La Passerella lag der Schnee einen halben Meter hoch, jungfräulich, blendend weiß und in der Morgensonne glitzernd. Die Zypressen neigten sich unter der Last, die dick mit Schnee bepackten Gartenmöbel wirkten wie ein kitschiges Wintergemälde, das Verlorenheit symbolisieren sollte.
    Die Zeit schien stillzustehen und bewahrte den Frieden dieses in der Toskana ungewöhnlichen Morgens. Niemand störte die Ruhe, kein Autogeräusch, kein Schneepflug, keine Reifen-oder Fußspuren zerstörten das seltene Bild.
    Riccardo erwachte wie immer um sechs, sah, dass der Schnee in der Nacht mehr geworden und liegen geblieben war, und drehte sich noch einmal auf die andere Seite, um weiterzuschlafen, da er bei diesem Wetter draußen nicht arbeiten konnte. Das hatte er das letzte Mal vor acht Jahren getan, als es im Februar ähnlich viel Schnee gegeben hatte.
    Die außergewöhnliche Stille machte Amanda innerlich so nervös, dass sie bereits um acht Uhr wach war. Ihr erster Gedanke war Dankbarkeit, dass sie noch lebte, und dann überlegte sie, was an diesem Morgen anders war als sonst. Die obligatorischen Kopfschmerzen fehlten, was sie wunderte. Sie hatte sich schon so daran gewöhnt, morgens dieses dumpfe Stechen in den Schläfen zu spüren, das ihr Übelkeit und Schwindel verursachte, dass sie jetzt geradezu überrascht war. Sie konnte sich sogar schmerzfrei aufsetzen, und das Zimmer drehte sich nicht vor ihren Augen, sondern blieb, wo es war.
    Sie legte sich noch eine Weile hin, um diesen klaren, schmerzfreien Moment auszukosten, und langsam kam die Erinnerung an letzte Nacht.
     
    Amanda saß bereits bei ihrem zweiten Cappuccino, als Sofia in die Küche kam.
    »Guten Morgen, mein Kind«, sagte sie betont aufgeräumt.
    »Was ist los, Mama, warum schläfst du nicht?«
    »Weil mir zu viel im Kopf herumgeht. Dieser Jonathan zum Beispiel. Dieser Deutsche. Ich dachte, er ist nur unser Gast und nichts weiter, aber da hab ich mich wohl getäuscht.«
    Sofia trank ein Glas Wasser und schwieg.
    »Hab ich mich da getäuscht?«
    »Vielleicht ein bisschen.«
    »Also: Raus mit der Sprache! Schläfst du mit ihm?«
    »Ich liebe ihn, Mama.«
    »Das hab ich nicht gefragt. Ich will wissen, ob du mit ihm schläfst, verdammt.«
    »Ja.« Sofia traten die Tränen in die Augen. Wenn ihre Mutter mal ein Gespräch begann, war es meist ein Verhör.
    »Na, das ist ja fabelhaft!«, meinte Amanda und schlug mit der flachen Hand auf die Tischplatte, dass ihre Tasse schepperte. »Da werden wir uns wohl was überlegen müssen, denn so geht das nicht, meine Liebe, nicht in meinem Haus.«
    »Ich bin neunundzwanzig, Mama, und keine fünfzehn mehr.«
    »Na und?«
    »Ich kann machen, was ich will.«
    »Eben nicht!« Amanda stand auf, ging zur Tür, riss sie auf und brüllte: »Riccardo!«
    »Lass ihn doch schlafen!« Sofia verstand überhaupt nicht, warum ihre Mutter jetzt so einen Aufstand machte. Sie wollte offensichtlich Ärger, einen anderen Grund gab es nicht, denn sonst hätte sie ohne weiteres warten können, bis Riccardo von allein aufgestanden war.
    »Nein. Ich will jetzt mit ihm reden! Es ist wichtig, verflucht. Schlafen kann er meinetwegen jeden Tag, heute nicht!«
    »Riccardo!«, brüllte sie noch einmal, und es schallte durchs ganze Haus.
    Jonathan hat es sicher auch gehört, dachte Sofia. Allein bei dem Gedanken an ihn tat ihr das Herz weh. Weil sie ihn so sehr liebte, aber auch weil sie immer noch nicht verstand, was letzte Nacht passiert war.
     
    Riccardo kam eine Viertelstunde später. Verschlafen, schlecht gelaunt und depressiv. Tage, an denen er nicht im Weinberg oder in den Oliven arbeiten konnte, waren für ihn verlorene Tage. Er hatte das Gefühl, krank zu sein, wenn er in der Küche herumsaß und Amanda ertragen musste. Umso schlimmer, dass sie ihn heute auch noch gerufen hatte.
    »Was ist?«, fragte er knapp und stellte seine Tasse auf die Espressomaschine.
    »Setz dich erstmal und iss was. Wir müssen einiges besprechen.«
    Riccardo setzte sich. Aber er hatte keine Lust,

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