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Der Menschenraeuber

Der Menschenraeuber

Titel: Der Menschenraeuber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
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geliebte Heimatstadt Rom gereist, weil sie es vor Heimweh in dem Provinznest Ambra nicht mehr aushielt. Völlig unerwartet kam Gabriella bereits nach kurzer Zeit wieder, dafür aber mit Gloria im Gepäck, die von Tag zu Tag verwirrter wurde und in Rom allein nicht mehr zurechtkam.
    Neri hatte sich bis auf die Knochen blamiert, als er die größte Suchaktion startete, die es im Valdambra jemals gegeben hatte, weil man vermutete, Oma habe sich im Wald verlaufen und irre seit Stunden orientierungslos durch die Berge. Als die Dunkelheit hereinbrach und die Nervosität der Helfer ihren Höhepunkt erreichte, tauchte Gloria vergnügt wieder auf. Sie hatte sich zusammen mit einer Nachbarin einen angeschäkert und damit eine Aktion ausgelöst, die ihrem Schwiegersohn jede Menge Spott und Ärger einbrachte.
    Seither hatte Neri ein noch gestörteres Verhältnis zu Gloria und ergriff am liebsten die Flucht, wenn sie in der Küche saß, in unglaublicher Lautstärke ihren Milchkaffee schlürfte und dummes Zeug erzählte.
    Am Wochenende frühstückten Neri, seine Frau Gabriella und Oma immer zusammen. Gianni, der siebzehnjährige Sohn der Neris, schlief meist noch und kam höchstens in die Küche, um sich – ohne irgendjemanden zu grüßen und ohne ein Wort zu sagen – einen Kaffee zu holen.
    Die Gespräche an den Wochenenden wiederholten sich, manchmal fast wörtlich.
    »Liebchen«, sagte Oma schlürfend zu Gabriella, »wie alt bist du jetzt eigentlich?«
    Neri verdrehte die Augen, was Oma aber nicht mitbekam, da sie ihn gar nicht beachtete. Er war einfach Luft für sie.
    »Achtunddreißig, Mama.«
    »Ach, doch. So alt schon.« Oma nickte und machte ein Gesicht, als dächte sie ernsthaft nach.
    »Bist du eigentlich verheiratet, Liebchen?«
    »Ja, klar, Mama. Das weißt du doch!«
    »Ach was!« Oma wirkte verärgert. »Mit wem denn?«
    »Mit Donato, Mama. – Sag doch mal was zu Oma, Neri«, zischte Gabriella, »damit sie sich erinnert!« Aber Neri schüttelte den Kopf, presste die Lippen aufeinander und schwieg.
    »Weihnachten habt ihr immer zusammen gepuzzelt, Mama.«
    »Das wüsste ich aber!« Oma war wütend. »Ist er tüchtig?«
    »Aber ja. Sehr sogar.«
    Oma nickte und schlürfte.
    »Kannst du mich heute Nachmittag in die Via Cagliari bringen? Ich möchte Paola besuchen.«
    »Die Via Cagliari ist in Rom, Mama. Und Paola ist seit zwei Jahren tot.« Gabriella seufzte.
    »Ich möchte sie besuchen!«, beharrte Oma.
    »Das geht nicht. Du bist hier in Ambra und nicht in Rom!«
    »Wieso bin ich nicht in Rom?«
    Das war der Moment, in dem Neri regelmäßig aufstand und hinausging. Gabriella überlegte, ob Oma vielleicht gar nicht so verwirrt war, sondern nur so tat und sie alle an der Nase herumführte. Ob sie diese Frage immer wieder aus reiner Bosheit stellte, um Neri zu ärgern, oder ob sie es wirklich so meinte, weil ihr noch eine kleine Erinnerung an ihr Leben in Rom geblieben war.
    Denn jeden Sonntag stellte Oma diese verdammte Frage.
    Gabriella seufzte. »Du lebst bei uns, und wir leben nun mal nicht in Rom, weil Donato keinen Job in Rom hat, sondern hier. Aber das habe ich dir doch schon tausendmal erklärt, Mama.«
    Oma nickte und schob sich ein halbes Croissant in den Mund, was sie für einen Moment verstummen ließ.
    »Liebchen«, sagte sie dann nach der unfreiwilligen Pause, »hast du eigentlich Kinder?«
    »Ja. Einen Sohn. Gianni.«
    »So, so. Wie alt ist er denn?«
    »Siebzehn.«
    »Aha. Und warum erfahre ich davon nichts? Ich würde den Bengel gern mal kennenlernen.«
    In diesem Moment kam Gianni in die Küche. Nur mit Boxershorts bekleidet, zerzausten Haaren und völlig verschlafenen, kleinen Augen.
    »Gianni«, meinte Gabriella mittlerweile sehr genervt, »bitte, sag deiner Oma Guten Morgen und erklär ihr, wer du bist.«
    Gianni nahm seinen Kaffee, zeigte seiner Mutter einen Vogel und ging wieder hinaus.
    Oma hatte ihn gar nicht registriert. »Bist du gut versorgt, Liebchen, oder muss ich mir Sorgen machen?«
    »Es ist alles in Ordnung, Mama. Ich bin versorgt, habe einen lieben Mann, einen tüchtigen Sohn und fühle mich wohl. Du brauchst dir also keine Sorgen zu machen.«
    Vier Behauptungen und drei Lügen, dachte Gabriella bitter. Das war kaum noch zu toppen.
    Oma fragte nichts mehr. Sie schloss die Augen und schlief ein.
    Jetzt öffnete Gabriella die Küchentür, um Neri zu signalisieren, dass die Fragestunde vorbei war. Neri kam wieder herein und frühstückte zu Ende, wobei sie fast immer schwiegen. Weil sie

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