Der Menschenraeuber
Oma um Gottes willen nicht wecken wollten und weil es einfach nichts zu sagen gab.
Um Punkt halb elf ordnete Neri in der Amtsstube seine Kugelschreiber, legte die noch nicht erledigten Papiere zusammen, verschloss seine Schreibtischschublade und schob sich den Schlüssel in seine Brusttasche. Er wollte nicht, dass sein Kollege Alfonso eventuell in Versuchung kam, in seinen privaten Sachen herumzuschnüffeln, auch wenn Neris Geheimnisse nichts weiter waren als seine Autoschlüssel, Papiertaschentücher, eine alte Uhr, die nicht mehr ging und die er schon vor Wochen zum Uhrmacher bringen wollte, ein Päckchen Kaugummi, ein Kartenspiel und Mückenspray.
Dann stand er auf, strich seine Uniformhose glatt, winkte Alfonso, der gerade telefonierte, kurz zu und verließ die Carabinieri-Station, um in der Bar della Piazza wie jeden Morgen um diese Zeit einen Kaffee zu trinken.
Seine Lederschuhe klackten hörbar auf den Steinquadern der alten Dorfstraße, er ging zügig mit langen Schritten und musste sich Mühe geben, nicht außer Atem zu geraten. Der Inhaberin des Geschenkartikelladens, die vor ihrem Geschäft eine Zigarette rauchte, nickte er kurz zu und bemerkte überrascht, dass ein Stück weiter das Haus des Schusters eingerüstet worden war. Porcamiseria, dachte er, jetzt wird die alte Bruchbude also doch noch restauriert. Und woher hat dieser Halsabschneider plötzlich das ganze Geld? Aber das würde er rauskriegen.
Neri genoss es, in der Bar von jedermann gegrüßt zu werden, und bestellte sich einen Cappuccino und zwei Croissants, die ihm zumindest hier Oma nicht wegfraß. Lieber noch hätte er einen Caffè Corretto getrunken, einen Espresso mit einem Grappa, aber das wagte er dann doch nicht, solange er im Dienst war.
»Buongiorno, Jonathan!«, sagte Neri, als er Jonathan an der Theke bemerkte, der sich einen Espresso holte. Neri freute sich immer, wenn er den Deutschen in der Bar oder auf dem Markt traf, und wechselte gern ein paar Worte mit ihm. Er mochte Jonathan, es imponierte ihm, wie liebevoll er sich um seine blinde Frau kümmerte, und Neri bewunderte, wie schnell und perfekt er Italienisch gelernt hatte.
Jonathan grinste und setzte sich zu Neri. »Ciao, Donato! Wie geht’s?«
»Einigermaßen. Und bei euch? Alles in Ordnung auf La Passerella?«
»Alles bestens. Wir freuen uns auf den Sommer, auf die Gäste, richten Haus und Pool her, bepflanzen die Terrassen – aber die Arbeit wächst uns über den Kopf, und ich weiß nicht mehr, wie ich das alles schaffen soll. Kennst du nicht jemanden, der uns in der Saison ein bisschen zur Hand gehen kann? Im Garten, im Wald, bei den Oliven, gießen, wässern, mähen, was weiß ich?«
In diesem Moment kam Neri eine Idee.
»Ja, ich wüsste jemanden. Und zwar geht es um meinen Sohn Gianni. Er gammelt und mault zu Hause rum und wird seine Sommerferien im Bett verbringen, wenn er keine Aufgabe hat. Außerdem könnte er sein Taschengeld etwas auf bessern.«
Jonathan nickte erfreut. »Fabelhaft! So einen jungen kräftigen Kerl kann ich gut gebrauchen. Ich hoffe, er kann mit Rasenmäher, Motorsense und Kettensäge umgehen?«
Neri zuckte die Achseln. »Keine Ahnung, aber wenn nicht, wird er’s lernen. Kann nicht schaden. Er muss einfach mal ein bisschen munter werden. Wann kann er denn anfangen?«
»Meinetwegen gleich morgen um acht.«
NEUNZEHN
Gianni arbeitete nur widerwillig auf La Passerella. Er kam morgens gegen Viertel nach acht auf seiner Vespa angefahren, stieg ab, schob die Hände in die Hosentaschen und sah Jonathan gelangweilt an.
»Was soll ich machen?«
»Schneide die Erika mit der Motorsense. Fang direkt hinter dem Parkplatz an und arbeite dich langsam vor bis zur Laterne am Weg.«
»Warum das denn?«
»Aus drei Gründen.«
»Zum Beispiel?« Gianni gähnte herzhaft.
»Weil du Geld verdienen willst, weil die Erika geschnitten werden muss, und weil ich es sage.«
Gianni verdrehte die Augen. »Aha. Geil. Wo ist die Scheiß motorsense?«
»Im Magazin. Wie immer, Gianni. Und Benzin ist im blauen Kanister.«
Gianni nickte, drehte den Schirm seiner Baseballkappe in den Nacken und schlurfte ins Magazin.
Eine große Hilfe war Gianni zwar nicht, aber immerhin, was er tat, war besser als nichts. Er schnitt die Erika, mähte den Rasen, harkte, verbrannte Gestrüpp, wenn es geregnet hatte und die Erde feucht war, hackte das Holz für den Winter, stapelte es in der Scheune, saugte den Pool und fegte die Terrasse. Er hob Löcher aus und pflanzte
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