Der Menschensammler - Dicte Svendsen ermittelt Kriminalroman
wollte Anne bitten, sie festzuhalten, damit sie die Bodenhaftung nicht verlor und sich in ihren Ambitionen verfing, um ein Rätsel zu lösen, von dem sie besser die Finger lassen sollte.
»Lungenentzündung«, antwortete Anne.
»Wird er es denn überleben?«
|294| Sie hatte nicht die Absicht gehabt, es sarkastisch klingen zu lassen.
»Na, was meinst du?« Anne schnappte nach Luft. »Die sollen ihm doch einfach einen Schuss Antibiotika geben und dann wird das schon wieder, was? Fünfundsiebzig ist ja schließlich kein Alter!«
»Entschuldige. Es war nicht so gemeint.«
»Wie war es denn dann gemeint?«
Der Telefonhörer klebte in ihrer Hand.
»Ich habe wohl versucht, einen kleinen Witz zu machen«, stammelte sie. »Schlechtes Timing.«
Es blieb still in der Leitung. Sie wartete vergeblich darauf, dass Anne sie nach ihrem Wohlbefinden fragen würde. Aber vielleicht sollte sie dafür dankbar sein, denn wie hätte sie in diesem Augenblick ihren emotionalen Zustand auch beschreiben sollen? Wie sollte sie die richtigen Worte finden für all das, was geschehen war, mit Boutrup und auch sonst? Wann würde sie Anne jemals nach diesem Tag fragen können, als Bo sie mit Torsten auf dem Krankenhausparkplatz gesehen hatte?
Das Schweigen hatte zwar nur wenige Sekunden angehalten, aber lange genug, dass der Lärm umso lauter und massiver zu hören war. Vielleicht wurde der gar nicht durch das Klirren der Scheibe, sondern vielmehr durch den Regen aus Glasscherben verursacht, der über sie niederging, und sich mit dem Aufheulen des Hundes paarte, als dieser hinter dem Sofa hervorgeschossen kam.
»Dicte? Was ist passiert? Was um Himmels willen ist da bei dir passiert?«
Annes Stimme war weit weg. Dicte stand mitten im Zimmer, das Telefon noch in der Hand, aber mit gesenktem Arm. Automatisch hob sie den Hörer wieder ans Ohr, während ihr Blick auf den Gegenstand fiel, der den Krach verursacht hatte. Er lag wie ein Eindringling mitten auf dem Teppich, umwickelt mit einem Stück Papier, das mit einem dicken Gummiband daran befestigt war.
»Jemand hat mir einen Pflasterstein ins Fenster geworfen«, sagte sie und legte auf.
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|295| Kapitel 44
Wagner drehte sich auf seinem Stuhl hin und her. Ihn trennte nur der Schreibtisch von Dicte Svendsen, die vor ihm saß. Er konnte in ihre Augen sehen, deren grün-blaues Leuchten sich wie gewohnt einen Weg in sein Inneres bahnte.
Sie sah nicht erschüttert aus, aber Wagner wusste, dass sie es dennoch war. Er hatte es sofort bemerkt, als sie im Polizeipräsidium aufgetaucht war. Es waren kleine Details, die es ihm verrieten: die Art, wie sie ihre Handtasche fest an den Körper presste; die Stimme, die eine Tonlage höher war als sonst, und die Lippen, die jedes Wort ganz deutlich formulierten, wie ein Reporter, der von einem Kriegsschauplatz berichtet. Aber er konnte auch ihre Wut sehen, was bei ihr aussah, als hielte sie eine angezündete Lunte in der Hand.
Erneut sah er auf das Papier, das sie in eine Klarsichthülle gesteckt hatte, damit man den Text lesen konnte, der darauf stand: »Lass die Toten in Frieden ruhen«.
Er konnte sich den Gedanken nicht verkneifen, dass der Verfasser eines hätte wissen müssen. So etwas sagte man einer Dicte Svendsen besser nicht. Oder eben nur, wenn man sich genau die entgegengesetzte Reaktion wünschte.
»Warum hast du nicht gleich gestern Abend die Polizei gerufen?«
»Der war doch schon längst über alle Berge. Das hätte keinen Sinn gehabt.«
»Was weißt du denn davon?«
Sie lehnte sich zurück, ohne den Blick von ihm abzuwenden. Die Art, wie sie ihn ansah, löste in ihm ein schlechtes Gewissen aus, obwohl er ihr nicht die geringste Kleinigkeit schuldete.
»Eins steht doch fest: Ihr steht alle unter einem riesigen Druck wegen dieser Polizeireform und habt ganz bestimmt keine zusätzlichen Beamten, die ihr hinaus aufs Land schicken könnt, weil irgendjemandem ein Stein ins Fenster geworfen wurde.«
|296| »Aber du bist doch nicht ›irgendjemand‹. Und dieser Pflasterstein ist nicht einfach nur ein Stein. Ihm wurde noch eine Drohung beigefügt.«
Sie nickte.
»Das ist ja auch der Grund, warum ich jetzt hier bei dir sitze. Ich habe mir gedacht, eure Techniker könnten sich den Zettel mal ansehen. Ich habe ihn mit Handschuhen vom Stein genommen. Er war mit einem Gummiband befestigt.«
Sie legte ihre Hand auf die Klarsichthülle. Vielleicht schuldete er ihr doch was. Er hatte sich nie für das Handy erkenntlich gezeigt, aber
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