Der Menschensammler - Dicte Svendsen ermittelt Kriminalroman
kannst dem Spiel mit dem Feuer standhalten?
Sie ignorierte es und stapfte trotzig mit dem Hund weiter. Aber es schien, als würde auch er das Unheil erahnen. Plötzlich hielt er abrupt inne und reckte die Nase in die Luft, als würde er etwas wittern. Dann drehte er um und rannte schnurstracks nach Hause. Nichts konnte ihn davon abhalten, weder kleine Leckerbissen noch die Drohung, dass er seine Schlafberechtigung auf Bos Bettseite verwirken würde. Svendsen wollte nach Hause und zwar auf der Stelle.
Auf dem Rückweg wurde sie mit einer Kraft gezogen, als hielte sie ein ganzes Gespann von Schlittenhunden an der Leine. Während sie hinter Svendsen herstolperte, ließ sie den Tag Revue passieren. Sie hatte an vielen Stellen Nachrichten hinterlassen: im Städtischen Krankenhaus, beim Leichenbestatter und beim Krematorium, |292| um sich nach der Feuerbestattung von Marie Gejl Andersens Vater zu erkundigen. Sie hatte das Gespräch mit der Stationsschwester geführt und zugestimmt, in der folgenden Woche vier Tage zum Gesundheitscheck ins Skejby Krankenhaus zu kommen. Sie hatte auch Kaiser darüber in Kenntnis gesetzt, der alles andere als begeistert gewesen war, ihr dann aber doch freigegeben hatte. Der einzige Haken an der Sache war leider, dass Holger Søborg als zuständiger Chefredakteur für die Krimibeilage der nächsten Woche ausgerufen wurde. Das hatte zwar mitnichten zu ihrem Plan gehört, allerdings konnte sie so für einen kurzen Moment dem Druck entkommen. Sie musste sich damit zufriedengeben, und solange es nicht der Auftakt für eine Meuterei war, würde das auch gehen.
»Jetzt warte doch mal, Svendsen.«
Sie hatten die Kreuzung in Kasted erreicht und liefen dann weiter geradeaus den Topkærvej hoch. Sie meinte, im Augenwinkel eine Gestalt auf dem Weg, der zur Kirche führte, gesehen zu haben, und der Hund quittierte diesen Eindruck mit einem leisen Knurren. Aber er hatte es so eilig, nach Hause zu kommen, dass er nicht anhielt, um sich zu vergewissern.
Sie hatte Kaiser von ihrer Verwandtschaft mit Boutrup erzählen müssen, ihm aber absolutes Stillschweigen darüber und über eine mögliche Nierenspende abverlangt. Sie konnte nicht abschätzen, wie lange Kaiser dieses Geheimnis für sich würde behalten können, aber sie musste davon ausgehen, dass die Story in Null Komma nichts ihren Weg zu den werten Kollegen finden würde. Von dort war es nicht weit bis in eine Kolumne, oder die Neuigkeit würde als stille Post in die richtigen Ohren geflüstert werden. Es war also nur eine Frage von Tagen, schätzte sie, bis Peter Boutrups biologischer Vater diese Neuigkeiten erfahren und sich dann garantiert an seinem Frühstücksbrötchen verschlucken würde.
Während sie das letzte Stück des Weges gezogen wurde, überlegte Dicte, ob sie ihn nicht selbst anrufen sollte. Eigentlich hatte sie eine moralische Verpflichtung dazu. Aber irgendwie |293| fühlte sich das alles verkehrt an, darum verwarf sie diesen Gedanken wieder. Sie waren sich im letzten Jahr einige Male im Zusammenhang mit dem Enthauptungsfilm über den Weg gelaufen, der ihr damals anonym zugespielt worden war und für den sie tief in der Vergangenheit hatte graben müssen. Ein Teil ihrer eigenen Vergangenheit lag in dem Kollektiv der Zeugen Jehovas in der Nähe von Ikast begraben, wo sie in dem Sommer vor vielen, vielen Jahren von ihrem damaligen Lehrer schwanger wurde. Aber Morten Agerbæk hatte nicht erfahren oder es nicht erfahren wollen, dass seine Schülerin der 9. Klasse sein Kind ausgetragen, zur Welt gebracht und dann zur Adoption freigegeben hatte. Auch letztes Jahr nicht, als alles aus den Tiefen der Erinnerung wieder aufgetaucht war. Warum sollte er das jetzt erfahren wollen?
Den ganzen Abend drehte sie sich im Kreis, bis sie endlich allen Mut zusammennahm und Anne anrief. Sie reagierte sehr zurückhaltend.
»Wie geht es dir?«
Die drei kleinen Worte ertranken förmlich in den unzähligen Andeutungen, die sie mit sich herumtrugen. Aber Anne konnte das offensichtlich nicht erkennen.
»Ganz okay, aber viel Stress. Meinem Vater geht es nicht so gut.«
Anne und ihr Adoptivvater hatten immer ein sehr schlechtes Verhältnis zueinander gehabt.
»Ja, was hat er denn?«, fragte Dicte, dabei standen ganz andere Worte in der Schlange, die gesagt werden wollten. Ein Teil von ihr wollte Anne von Peter Boutrup erzählen, über die Gefühle, die sich plötzlich zu Wort meldeten, und von dem Gespräch mit der Stationsschwester. Ein anderer Teil
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