Der Menschensammler - Dicte Svendsen ermittelt Kriminalroman
ist er auch schon tot. Aber eins ist sicher, er war zu gierig. Aber nicht mit mir. Immerhin kannten wir beide uns ganz gut, wusstest du das? Ich habe geahnt, dass du kommen würdest. Als ich an dem Abend deinen Wagen vor dem Krankenhaus gesehen habe, wusste ich, dass er einen Weg gefunden hatte, etwas auszuplaudern. Ich wusste, dass du bald darauf die Tür zum Kühlraum öffnen würdest. Ganz klar. Wie die Fliege, die auf dem Scheißhaufen landet.«
»Warum lässt du mich am Leben?«
Sie hatte die Frage eher gedacht als ausgesprochen, aber er schien ihre Gedanken gelesen zu haben.
»Dich kann man für nichts gebrauchen. Es muss schließlich |365| eine Grenze geben. Soll ich etwa verantworten, dass deine Knochen, Sehnen und Hornhäute im Körper von Menschen landen, die teuer dafür bezahlt haben?«
Er spuckte auf den Boden.
»Negerhornhäute. Pfui!«
Sie musste beinahe lächeln. Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie dankbar für ihre Hautfarbe. Es klang glaubwürdig, aber sie vermutete, dass es nur die halbe Wahrheit war. Den Rest musste sie sich selbst dazudenken, denn das würde er ihr bestimmt nicht erzählen. Er arbeitete für andere und war es ganz offensichtlich gewohnt, Befehle zu empfangen. Aber in diesem, in ihrem Fall nicht und wahrscheinlich auch nicht, was Arne anbetraf. Etwas war da schiefgelaufen, und das hatte wahrscheinlich weniger mit diesen Operationen zu tun als mit dem Kampf zwischen den beiden Männern, die einander offensichtlich gut kannten. Bay hatte den Kampf verloren, er war entweder tot oder lebendig begraben. Sie hatte auch verloren. Er würde sie vorerst nicht töten, weil er den Befehl noch nicht erhalten hatte oder aus einem anderen Grund, den sie nicht kannte. Vielleicht hatte er bei Arne über die Stränge geschlagen, hatte ihn getötet, und jetzt war sein Chef stinksauer auf ihn. So könnte es sein.
Sie seufzte, als er sie zurück in den Sarg legte und den Deckel wieder verschloss. Er würde sie vorerst am Leben lassen. Allerdings war sie sich nicht sicher, ob sie das überhaupt wollte.
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Kapitel 56
John Wagner fuhr in derselben Sekunde auf seinen Stammparkplatz im Hof des Polizeipräsidiums, als Dicte Svendsen aus ihrem Wagen sprang. Sie sah gehetzt und zerstreut aus, ihr Haar war strähnig, und das Make-up sah nachlässig aus, als hätte sie keine Zeit gehabt, einen Blick in den Spiegel zu werfen. Wahrscheinlich |366| hatte sie das auch nicht. Einen kurzen Moment wunderte er sich darüber, dass eine so attraktive Frau nicht viel eitler war.
»Wagner!«
Es war unmöglich, ihr zu entkommen, also drehte er sich um und ging auf sie zu. Allerdings mit einem Gefühl, als hätte sie ihn gerade haushoch in
Mensch-ärgere-dich-nicht
geschlagen.
»Ich hab da was für dich.«
»Hast du das nicht immer?«
»Etwas Wichtiges.«
Ist es das nicht immer, dachte er, aber sagte es nicht. Mit einem Nicken forderte er sie auf, ihm zu folgen, aber zum ersten Mal schien es, als würde er sie dazu zwingen müssen.
»Ich hab es ein bisschen eilig. Aber da gibt es so einiges, das du wissen solltest.«
»Ja, dann komm doch endlich mit, in Gottes Namen.«
Sie fuhren hoch in sein Büro.
»Warum hast du es denn so eilig?«
»Ich muss unter Umständen eine Niere spenden.«
Wenn Wagner noch nicht ganz wach gewesen sein sollte, dann wurde er das in dieser Sekunde.
»Bist du übergeschnappt? Eine Niere? An wen denn?«
Er war zu weit gegangen, das begriff er sofort.
»Entschuldige, das geht mich nichts an. Was wolltest du mir sagen?«
Sie zog etwas aus ihrer Jackentasche, einen weißen Umschlag. Dann streckte sie sich und holte ein Buch aus seinem Regal,
Dänische Kriminalgeschichte in den Zwischenkriegsjahren
. Sie schüttete den Inhalt des Umschlags auf den Buchdeckel. Da lagen zwei herzförmige Silberpailletten auf dem dunklen Untergrund und glitzerten wie zwei Sterne am Nachthimmel.
»Ich würde sagen, du solltest die KTU bitten, diese beiden mit den Pailletten auf Mette Mortensen T-Shirt zu vergleichen.«
Er starrte auf die Herzen, während sein Gehirn rotierte und er eigenhändig diesen Vergleich vornahm.
|367| »Wo hast du die her?«
Sie erzählte ihm die Geschichte, und sein erster Impuls war es, alle Einsatzkräfte, das Heer und die Luftwaffe zu diesem Bestattungsinstitut zu schicken und alles auf den Kopf zu stellen. Aber sie wussten beide, dass er den Dienstweg einhalten musste. Theoretisch konnten die Pailletten von überall stammen. Er hob das Buch hoch und ließ
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