Der Menschensammler - Dicte Svendsen ermittelt Kriminalroman
öfter Kopfschmerzen?«
Sie konnte sich nicht erinnern, die Tage flossen alle ineinander. Aber doch, natürlich, als sie beim Leichenbestatter war.
»Doch, hatte ich. Vor ein paar Tagen hatte ich so eine Kopfschmerzattacke, aber die ist dann wieder weggegangen.«
Inger Hørup zog die Manschette mit so viel Schwung von ihrem Arm, dass der Klettverschluss nur so zischte.
»Wir nehmen Ihnen noch Blut ab, und dann bekommen Sie so einen Apparat mit nach Hause, mit dem Sie in den nächsten Tagen Ihren Blutdruck regelmäßig messen sollten.«
»Dann bleibe ich heute nicht bei Ihnen?«
Die Krankenschwester schüttelte den Kopf.
»So wie es jetzt aussieht, nicht. Wenn es so bleibt, und ich gehe davon aus, denn Ihr Blutdruck ist wirklich außerordentlich hoch, dann sind Sie vollkommen ungeeignet als Spenderin.«
Ungeeignet. Jetzt könnte sie noch nicht einmal die Niere spenden, selbst wenn sie es gewollt hätte. Die Konsequenzen türmten sich in ihrem Inneren übereinander auf. Sie hatte die ganze Zeit nach einem Ausweg gesucht, nun hatte sie einen auf dem Silbertablett serviert bekommen, aber sie empfand keine Erleichterung. Im Gegenteil, die Enttäuschung schmeckte bitter.
»Sind Sie sicher, dass ich nicht doch bleiben soll?«, fragte sie. »Können wir die Untersuchungen nicht trotzdem durchführen?«
|373| Sie hatte Schwierigkeiten, die Diagnose an- und ernst zu nehmen, denn sie fühlte sich gesund. Sie war sich ziemlich sicher, dass der Apparat falsch gemessen hatte.
Inger Hørup schüttelte energisch den Kopf.
»Es ist besser, abzuwarten.«
»Aber wenn ich nicht spenden kann, was passiert dann?«
»Es gibt ja noch die Warteliste, und Peter Boutrup steht relativ weit oben. Vielleicht kommt ganz unerwartet eine Niere, die seinem Gewebetyp entspricht. Das kann man nicht vorhersagen.«
Sie verstummte.
»Vielleicht sollten Sie mit ihm sprechen und ihn darauf vorbereiten. Er ist heute zur Dialyse da. Wenn Sie wollen, begleite ich Sie und erkläre den Sachverhalt.«
Dicte musste schlucken. Sie hatte überhaupt keine Lust dazu. Ungeeignet. Sie hatte einen neuen Stempel bekommen, und den konnte sie nicht leiden. Der hohe Blutdruck beraubte sie auch jeder Verhandlungsgrundlage, außer sie entschied sich zu lügen. Und sie brannte darauf, einen Namen von ihm zu bekommen, irgendwas, nur einen winzigen Hinweis auf den Mann, der mit ihrem Sohn die Zelle geteilt hatte. Ihr fehlte ein Anhaltspunkt, und Peter Boutrup konnte ihr diesen liefern. Aber das war es nicht allein. Sie hatte den kranken Mann vor Augen, dem sie zum ersten Mal in der Krankenhauskantine begegnet war. Seine Augen, die ihren so ähnlich waren. Blut war doch dicker als Wasser, und es spülte eine Welle von Gefühlen an die Oberfläche. Wer würde ihm jetzt helfen können?
Sie riss sich zusammen, schlug höflich das Angebot ab, ließ Inger Hørup die notwendigen Blutproben abnehmen und machte sich dann auf den Weg in die Kantine, wo Bo bei einer Tasse Kaffee saß und Zeitung las. Sie sah schon von weitem, an der Art wie er die Zeitung umblätterte, dass er noch immer wütend war wegen der Szene, die sie auf dem Parkplatz gemacht hatte.
Anne, Peter Boutrup, Bo, Wagner. Wohin sie sich auch drehte, sie erwartete keine leichte Situation. Am schwersten wog für |374| sie aber der Disput mit Bo. Sie hatte entdeckt, dass sie sogar auf Anne verzichten könnte. Sie würde es ertragen können, Anne zu verlieren, zumindest für eine Weile. Aber Bo war ihr Fundament. Zwar ein unsicheres, weil er zwischendurch einfach seine Koffer packte und fuhr. Aber sie konnte ihn immer erreichen, wenn es sie danach verlangte und sie es wollte. Sie nutzte dieses Angebot allerdings nur selten, und das verstanden weder sie selbst noch Bo. Es war eines dieser großen, ungeklärten Rätsel, dass sie ihn liebte und brauchte, aber ab und zu – in der Regel in den unpassendsten Momenten – gezwungen war, sich zu beweisen, dass sie es auch alleine schaffte. Bisher hatte er das zögernd und widerwillig akzeptiert. Aber wie lange würde das noch gutgehen?
Sie ging auf seinen Tisch zu und stellte den Apparat vor ihn. »Was ist das?« Er sah das Ding an, als handelte es sich um eine Bombe.
»Ich wurde disqualifiziert. Mein Blutdruck ist zu hoch.«
Er senkte die Zeitung und sah sie alarmiert an.
»Du Arme. Das sind aber schlechte Neuigkeiten. Musst du Tabletten nehmen?«
Sie nickte.
»Davon gehe ich aus, allerdings habe ich ganz vergessen zu fragen.«
Er klopfte auf den Stuhl neben
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