Der Menschensammler - Dicte Svendsen ermittelt Kriminalroman
Schenkeln. Sie mochte die Erinnerung an die Schmerzen.
»Ganz unterschiedlich.«
Sie zog den zweiten Strumpf an. Vorsichtig rollte sie auch diesen über ihr Bein und spürte dabei die Weichheit ihrer Haut. Gleich würde sie seine Hände überall auf ihrem Körper spüren. Gleich würde er in sie eindringen und ihren Kopf an den Haaren nach hinten reißen, bis sie vor Lust und Schmerz stöhnte.
»Wo sind die Kinder?«
|101| Immer die Kinder. Er versuchte schon lange nicht mehr, sie zurückzuhalten. Aber die Kinder konnte man immer wieder einsetzen. Wenn er im Selbstmitleid versank, sollten sie da sein. Wenn sie zu viel um die Häuser zog, musste sie an ihre Verantwortung erinnert werden und daran, dass es sie gab. Er wollte ihre Gefühle durcheinanderbringen und ihr die Freude nehmen.
»Emma ist bei Monique und Oliver beim Fußball. Das hab ich dir doch schon gesagt.«
Er kam näher, während sie den zweiten Strumpf befestigte und sich den Unterrock überstreifte. Sein Haar lag flach am Hinterkopf an, weil sein Kopf die meiste Zeit an der Kopfstütze lehnte. Aber trotzdem; er war früher einmal ein sehr gutaussehender Mann gewesen, und immerhin hatten sie zwei Kinder miteinander gezeugt. Vielleicht hatten sie sich sogar geliebt, und vielleicht hatte davon etwas überlebt. Nur wo?
»Das war nicht deine Schuld«, sagte er plötzlich, ohne Vorwarnung. »Damals. Das weißt du, oder?«
Sie war vollkommen unvorbereitet, weil sie noch nie darüber gesprochen hatten. Die Gedanken jagten blitzschnell durch ihren Kopf. Worauf wollte er hinaus?
»Du konntest nichts dafür«, fuhr er fort. »Dass es passierte.«
Sie musste raus da. Schnell schlüpfte sie in den Rock, zog die Bluse über und knöpfte sie zu. Dann steckte sie ihre Füße in die hochhackigen Pumps, und augenblicklich ging es ihr besser. Nichts konnte einen schneller zur Vernunft rufen als Schuhe. Schuhe, die sie erhöhten, sie auf Augenhöhe mit der Situation brachten und mit einem effektiven ledernen Panzer versahen. Diese waren grün, wie die Hoffnung.
»Du wirst sehen, das wird sich alles richten«, sagte sie, ohne zu wissen, was genau sie damit meinte. »Buller kommt gleich und leistet dir Gesellschaft. Ihr könnt ja zu Føtex fahren und für morgen Essen einkaufen.«
Gott sei Dank gab es den Sozialdienst. Bullers Wert müsste in Gold aufgewogen werden. Leider hatte er angefangen, sich über die schlechte Bezahlung durch die Gemeinde zu beschweren. |102| Er könnte wesentlich mehr verdienen, wenn er in einer Fabrik arbeiten würde. So war es nun mal. Es gab zu wenig Interessierte, und dieser Job erforderte ein hohes Maß an Flexibilität. Man musste zu jeder Tages- und Nachtzeit verfügbar sein.
Sie seufzte und zog sich ihre Jacke an. Am Ende hatte sie Buller noch mehr zugesteckt, als sie ihm ohnehin schon bezahlte.
Wie sonst auch küsste sie ihn auf die Stirn, und er wehrte irritiert mit der Hand ab.
»Ich bin in drei Stunden wieder da.«
»Wie lange macht ihr rum? Eine Stunde? Zwei? Wie lange braucht er, um zu kommen? Und du?«
Sie hatte ihm schon den Rücken zugewandt, blieb aber mitten im Schritt stehen. Er fuhr fort.
»Du kannst ihn jederzeit mitbringen, das weißt du. Wenn die Kinder mal nicht da sind!«
»Bis später«, sagte sie.
Manchmal, nicht allzu häufig, dachte sie über die Reise nach, die ihr Leben bisher gewesen war. Heute war einer dieser Tage. Vielleicht hatte es mit dem nächtlichen Alptraum zu tun, der noch in ihr nachwirkte. Sie hatte von ihrer Kindheit geträumt, wenn man diese Zeit, die so weit entfernt war, überhaupt so nennen konnte.
Nur diese Nacht war sie nicht weit weg gewesen. Diese Nacht hatte sie in den feuchten Wänden der Dreizimmerwohnung verbracht, in der niemand aufräumte und sich keiner bemüht hatte, dieses erbärmliche Leben zu verändern. Sie hasste die Armut, in ihr war sie aufgewachsen. Materielle Armut, ohne Geld, mit schlechter Ernährung und Hänseleien in der Schule, weil man anders aussah und nicht die neuesten Klamotten trug, sondern die alten Sachen, und Schuhe von der Cousine erbte. Aber hauptsächlich hatte sie unter der geistigen Armut gelitten. Die Mutter hatte die Schule nach der siebten Klasse abgebrochen und niemals richtig schreiben und lesen gelernt. Aber ihren eigenen Namen konnte sie schreiben, in großen kindlichen |103| Buchstaben, wenn sie etwas auf Ratenzahlung kaufte oder bei irgendeiner suspekten Firma einen Kredit mit horrenden Zinsen aufnahm.
Kiki fuhr den Wagen aus
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