Der Menschensammler - Dicte Svendsen ermittelt Kriminalroman
Beschreibung »Gummipuppe« passte perfekt. Es sah aus, als bestünde sie nur aus Haut und Haaren, als hätte jemand ihr Skelett entfernt, das sie ansonsten stützen und aufrecht halten würde. Obwohl der Bildschirm sehr klein war, konnte man ihre leeren Augenhöhlen deutlich erkennen, die aus tiefer, bodenloser Dunkelheit starrten. Am linken Bildausschnitt waren zwei Beine in Jeans zu sehen, die wahrscheinlich der Mutter gehörten.
»Was ist das?«, fragte Bo.
»Was?«
»Das da. Ist das ein Schatten? Ein Baum?«
Er zeigte mit dem Finger auf das Display. Mit einem freundlichen Lächeln nahm er dem Mädchen das Handy aus der Hand und spielte den Film erneut ab. Dicte kniff die Augen zusammen.
»Da!«
Zuerst konnte sie nicht erkennen, was er meinte. Doch dann plötzlich sah sie es. Es war ein Schatten, der übers Auto, die Leiche und den Parkplatz wanderte.
»Das muss das letzte Auto in der Reihe gewesen sein«, sagte sie. »Dahinter kommt der Wald. Nur Bäume.«
»Aber ist das ein Baum?«, fragte Bo und ließ den Film ein weiteres Mal laufen.
Sie schüttelte den Kopf. Das konnte beim besten Willen kein Baum sein. Denn dann müsste es ein äußerst lebendiger Baum gewesen sein, von der Sorte, die sich bewegen konnte.
Bo fror den Ausschnitt ein, Dicte starrte auf den Schatten zwischen den Bäumen.
»Stiefel«, murmelte Bo. »Ein fucking Stiefel.«
Er hatte recht. Der Schatten endete zwischen den Bäumen, und man konnte zwei schwarze schwere Stiefel erahnen, die einen unweigerlich an einen der alten Filmklassiker erinnerte.
Clockwork Orange
. Der Rest des Mannes verschwand im Schatten.
|15| »Der muss überrascht worden sein«, stellte sie fest, während ein Schauer über ihren Rücken lief. »Er hatte nicht damit gerechnet, dass dort jemand vor Ende des Spiels auftaucht. Er hat in der Nähe gestanden und alles gesehen.«
Je öfter sie den Film ansahen, desto deutlicher wurde es, dass es sich um einen menschlichen Schatten handelte, der vom Waldrand auf den letzten Wagen in der Parkreihe und auf die Frauenleiche ohne Augen gefallen war.
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Kapitel 2
Wagner betrachtete die Leiche, die gegen den Wagen gelehnt war, und konnte seine Erleichterung nicht fassen.
Die Frau starrte ihn aus leeren Augenhöhlen an. Alles an ihr schien verkehrt, von ihrer unnatürlichen Körperhaltung, die an ein weggeworfenes Spielzeug erinnerte, bis zu der Tatsache, dass sie dort, umgeben von Vogelgezwitscher aus dem Buchenwald und dem Lärm der nach Hause strömenden Fußballfans, saß – und tot war. Aber wenigstens war das ein Tod, gegen den er etwas unternehmen konnte. Gott bewahre, nicht, dass er sie wieder zum Leben erwecken konnte. Aber er konnte mit dem Tod arbeiten. Er konnte ihm und der Umgebung Erkenntnisse entlocken. Er konnte ihm, wenn schon keinen Sinn, dann doch eine Erklärung abringen.
»Ich wollte dich gerne dabeihaben. Hoffe, das war in Ordnung?«
Im ersten Augenblick hatte er Schwierigkeiten gehabt, Jan Hansen wiederzuerkennen.
»Ich wusste gar nicht, dass du ein Fan von denen bist?«, sagte Wagner und deutete auf den muskulösen Oberkörper seines Kriminalkommissars, der in einem blauweißen Hummel-Fan-Shirt steckte. »Dir fehlt ja nur noch der Schal!«
|16| Hansen sah peinlich berührt aus.
»Der liegt im Auto.«
»Ach so. Du warst hier also die ganze Zeit?«
Jan Hansen nickte.
»Wie war es auf der Beerdigung?«
Wagners Blick wanderte zurück zur Leiche. Die Spurensicherung war schon in vollem Gange. Der Gerichtsmediziner, sein guter Freund Gormsen, war noch nicht am Tatort, würde aber jeden Augenblick eintreffen.
»So, wie so was eben abläuft. Langsam«, sagte er bedächtig.
»Langsam?«
Wagner gab keine Antwort, sondern ließ sich von einem der Kriminaltechniker einen sterilen Anzug, einen Mundschutz und ein Paar Latexhandschuhe geben und ging neben der Leiche in die Hocke. Wie sollte er seine Ohnmacht beschreiben? Wie sollte er die vergangenen Tage schildern, seit seine Schwiegermutter nach überstandener Hüftoperation aus Amerika zurückgekehrt war und plötzlich hohes Fieber bekommen hatte und dann – trotz sofortiger medizinischer Versorgung – wenige Tage später an dieser Infektion gestorben war. Welche Worte sollte er finden für Ida Maries Trauer, die er um jeden Preis der Welt lindern wollte. Stattdessen hatte sie sich auch in ihn hineingefressen, bis er frustriert und machtlos aufgegeben hatte. Er konnte keine Hilfe sein. Ausgerechnet er, der es gewohnt war, sich dem Tod
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