Der Menschensammler - Dicte Svendsen ermittelt Kriminalroman
alles in sich auf. Es stimmte, wenn man sagte, die Augen seien der Spiegel der Seele. Er hatte schon viele Leichen gesehen, aber keine, die so seelenlos wirkte. Wie eine Vogelscheuche, dachte er.
»Der Täter hat die Augen entfernt«, kommentierte Gormsen den Befund. »Aber nicht nur das. Er hat auch die Augenlider abgetrennt.«
»Warum?«, fragte Wagner. »Wozu soll das gut sein?«
Gormsen zuckte mit den Schultern.
»Vorsorgende Maßnahme, vielleicht?«
»Meinst du, um andere potentielle Opfer einzuschüchtern? Mafiamethode?«
Gormsen drehte den Kopf der jungen Frau erst zur rechten, dann zur linken Seite.
»Ich würde sagen, das ist dein Revier«, entgegnete er mild. »Ich bin hier nur der Kadaverdoktor!«
Aber sie beide wussten, dass er viel mehr als das war.
»Todeszeitpunkt?«
Gormsen zuckte erneut mit den Schultern.
»Beginnende Leichenstarre und Todesflecken zusammen mit der Körpertemperatur … Mhm … Es ist nur eine ungenaue Angabe, aber ich würde so schätzen vor drei bis vier Stunden. Wir müssen sie mitnehmen, aufmachen und uns genauer ansehen.«
Er erhob sich aus der Hocke.
»Und die Presse? Die waren doch bestimmt von Anfang an dabei. Haben sie es geschafft, nah ran zu kommen und Fotos zu machen? Ich hoffe sehr, dass die nicht veröffentlicht werden, bevor wir die Tote identifiziert haben.«
Jan Hansen wies die Befürchtungen zurück. Die Gegend sei zügig mit den »Minenstreifen« abgesperrt worden, die Ordnungskräfte hatten das Absperrband zuvor benutzt, um volle Parkplätze zu kennzeichnen.
|20| Wagner musste unwillkürlich an Dicte Svendsen denken. Wenn die eigene Frau mit einer Kriminalreporterin befreundet war, kam es ihm manchmal vor, als wäre er mit der Klatschpresse liiert. Dennoch waren sie sich bisher selten privat über den Weg gelaufen. Das Begräbnis seiner Schwiegermutter war eine der wenigen Ausnahmen, aber keineswegs eine angenehme. Dicte Svendsen auf privatem Boden zu begegnen war in etwa so, als würde man mit einem israelischen General eine Partie Golf spielen, ohne über den Nahen Osten zu sprechen. Er war sich sicher, dass sie und ihr Lebensgefährte Bo Skytte sich auf der anderen Seite der Absperrung aufhielten.
»Svendsen?«, fragte in diesem Augenblick Hansen, der wie alle anderen von den Umständen wusste. Auch von dem Konflikt, in dem sich Wagner befand, um das Verhältnis zwischen ihnen professionell zu belassen.
»Ist vermutlich dort drüben irgendwo«, räumte Wagner ein.
»Ist sie das nicht immer?«, brummte Gormsen. »Irgendwo dort draußen …«
Wagner schob die Gedanken an Dicte Svendsen beiseite. Es war nun mal so, wie es war, und er konnte das im Augenblick auch nicht ändern, sondern lediglich versuchen, sich zu schützen und an die Regeln zu halten. Und das war schon schwer genug.
Gormsen hatte sich wieder hingehockt und begonnen, den Mund des Opfers zu untersuchen.
»Hast du was entdeckt?«
Der Gerichtsmediziner antwortete mit einem gurgelnden Geräusch, öffnete seinen Arbeitskoffer und holte eine Pinzette heraus. Wagner kniete sich neben ihn.
»Ich glaube, da steckt was drin«, sagte Gormsen, als würde er mit sich selbst sprechen. »Wenn ich das da nur herausbekommen könnte.«
Sie mussten lange warten, es kam ihnen vor wie Stunden, dann endlich gelang es ihm, den Kiefer der Toten zu öffnen. Gormsen steckte seine Latexfinger in den Mund und holte eine Kugel heraus. |21| Er drehte und wendete sie hin und her. Wagner stöhnte auf, als ihn plötzlich ein blaues Auge anstarrte.
»Ist das ihr Auge?«
Gormsen schüttelte den Kopf und klopfte mit der Pinzette gegen die Kugel, wobei ein klackerndes Geräusch entstand.
»Es sei denn, sie hatte ein Glasauge.«
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Kapitel 3
Der Varna Palais lag wie ein weißes Dornröschenschloss in der Mitte vom Marselisborg Park.
Das Palais war früher einmal eines der vornehmsten Ausflugsziele gewesen. Umgeben von gepflegten Grünanlagen, Blick auf Wald und Strand, schöne hohe Räume, große üppige Blumengestecke und ein Mobiliar, das eines Fürsten würdig war.
»Die Bastion des Bürgertums«, murmelte Bo, als er Dicte übertrieben höflich die Tür aufhielt. »Frau Svensson hat es ganz nach dem Geschmack von Frau Svensson arrangiert.«
Das stimmte tatsächlich, dachte Dicte. Ida Marie hatte ihr erzählt, dass es ihrer Mutter gelungen war, ihre Vorstellung von einem gelungenen Begräbnis vor ihrem Tod zu äußern. Es sollte allem voran eine Beerdigung sein, keine Beisetzung in einer Urne.
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