Der Menschensammler - Dicte Svendsen ermittelt Kriminalroman
unterwegs, bis auf die Kneipenbesucher am Fluss unten.
Sie überlegte kurz, aber die Neugier war zu groß. Sie ging ihm hinterher, er aber war nirgendwo mehr zu sehen. Sie zwang sich, weiterzulaufen. Keine Menschenseele weit und breit. Die Ecken und Vorsprünge lagen in dunkle Schatten gehüllt, es stank nach Urin und Erbrochenem.
Die Stimme ließ sie zusammenzucken.
»Bin ich es, den Sie suchen?«
Er stand unter der Brücke, ganz vom Schatten verschluckt. Die Glut der Zigarette hatte er in der Handfläche versteckt.
»Nein«, antwortete sie, wusste aber im selben Augenblick, dass er ihr die Lüge angehört hatte. Sie hatte sie selbst hören können.
Sein Mund verzog sich zu einem höhnischen Grinsen.
»Sie müssen da noch einiges lernen, wenn sie jemanden beschatten wollen.«
Ihr Herz raste, und ihr Mund wurde sofort trocken. Er könnte sie zu Tode prügeln, ohne dass es jemand mitbekäme.
»Nervös?«
Er kam einen Schritt auf sie zu. Sie konnte sein Grinsen jetzt deutlicher sehen. Seine Augen waren kalt und betrachteten sie abschätzig, so als wäre sie eine unbedeutende Beute, für die er sich nicht weiter interessierte.
»Sind Sie Arne Bay?«
Auf wundersame Weise gelang es ihr, die Frage ohne ein Zittern in der Stimme zu stellen.
»Und was ist, wenn ja?«
»Dann habe ich einen schönen Gruß für Sie.«
Er konnte nicht hören, dass es eine Lüge war, da war sie sich ganz sicher.
»Von wem?«
|111| »Von Ihrem Vater.«
Sie beobachtete jede seiner Gefühlsregungen und bemerkte die kleinste Veränderung. Es war wie bei dem Kuss vorhin. Auf seinem Gesicht wurde ein Zug sichtbar, den sie nicht genau zuordnen konnte. Aber offensichtlich wollte er diese Empfindung unterdrücken, denn plötzlich verzog sich die Oberlippe und entblößte seine Zähne.
»Ich habe keinen Vater.«
»Frederik Winkler«, sagte sie.
»Noch nie gehört.«
Er kam noch näher.
»Jetzt hör mal gut zu, du Journalistenschlampe. Du musst deine Technik ein bisschen verfeinern. Sogar der Geheimdienst macht das besser. Come on, glaubst du wirklich, wir sind ein Haufen Grenzdebile? Glaubst du nicht, dass wir lesen und schreiben und in der Presse diesen voreingenommenen Dreck verfolgen können?«
Natürlich. Er hatte ihre Artikel gelesen und auch ihr Foto gesehen. Manchmal verfluchte sie die Maßnahmen der Redaktion. Irgendjemand hatte vor Jahren mal die blendende Idee gehabt, dass der Name des Journalisten mit einem Foto versehen werden sollte. Alle anderen Zeitungen hatten sich dem angeschlossen, und mittlerweile wurde man als Verfasser eines Artikels praktisch mit Name, Telefonnummer, Alter und Bankverbindungen angeführt – aber auf jeden Fall mit seiner E-Mail-Adresse der Redaktion.
»Waren Sie am Samstagabend aus? Im Waxies? Und haben Sie es mit Mette Mortensen verlassen?«
Jetzt lachte er laut auf.
»Meine Fresse, was ist denn da in dich gefahren? Du bist ganz schön mutig!«
»Waren Sie?«
»Was geht dich das an, wo ich war und mit wem ich da war?« Er klang noch immer, als würde ihn das alles sehr amüsieren. Dicte spürte, dass er sich über sie lustig machte, aber sie sah |112| keine andere Chance, als das Gespräch in Gang zu halten. Besser, als plötzlich eine Faust im Gesicht zu haben.
»Wer war die Frau von eben? Wird sie auch eines Tages als Leiche am Fußballstadion enden? Und was will ein Rassist, wie Sie einer sind, eigentlich mit einer Dunkelhäutigen?«
Dicte wusste im gleichen Augenblick, dass sie zu weit gegangen war. Er sah sie an wie ein Ungeziefer, packte sie und drückte sie gegen die Mauer. Sie bekam keine Luft mehr. Sein Körper presste sich hart gegen sie und drohte sie zu zerquetschen. Er griff in ihr Haar und riss ihr den Kopf nach hinten.
»Jetzt werd ich dir mal was sagen. Wer ich bin und mit wem ich es zu tun habe, geht niemanden etwas an. Und schon gar nicht so eine hässliche Journalistenfotze wie dich, hast du das verstanden?«
Das konnte jetzt ihr Ende sein. Mit Leichtigkeit würde er ihren Kopf gegen die Mauer schleudern und sie in den Fluss werfen können, von dem sie hinaus ins offene Meer getragen werden würde. Niemand wusste, wo sie war.
»Ob du das kapiert hast?«
Sie nickte. Sie konnte gar nichts anderes tun. In diesem Augenblick vernahm sie das Geräusch von Stimmen, und sie hörte Schritte die Treppe hinunterkommen. Er hörte sie auch, ließ Dicte los und trat einen Schritt zurück.
»Fick dich und deine Scheißkollegen«, zischte er, drehte sich dann um und lief in
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