Der Menschensammler - Dicte Svendsen ermittelt Kriminalroman
Voraussetzungen wäre die Transplantation einer Niere von einem nahen Verwandten, zum Beispiel einem Elternteil.«
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Kapitel 27
Die Niere war grau und leblos. Sie war zudem kalt, denn sie hatte die vergangenen fünfundzwanzig Stunden in einer Kühlbox bei Kühlschranktemperatur verbracht.
|178| Er betrachtete sie, wie sie dort in seiner Hand lag. Er drehte und wendete sie. Dann entfernte er ein Stück von Vene und Arterie und spülte das restliche Blut ab, falls sich noch etwas auf dem Organ befunden haben sollte.
Janos Kempinski sah in die geöffnete Bauchhöhle des Patienten, der vor ihm lag. Normalerweise machte er sich nicht so viele Gedanken darüber. Es war selten die Zeit für große Grübeleien über Leben und Tod, wenn man über die geplanten Operationen hinaus zur Verfügung stehen musste und Transplantationsdienst hatte. Die Niere hatte er selbst im Karolinska Krankenhaus in Stockholm abgeholt, und das nach einem ganz normalen Arbeitstag mit Besprechungen und OPs. Diese Gelegenheit hatte sich nach einem Gewebetypvergleich ergeben, als der Computer in Schweden einen dänischen Patienten ermittelt hatte. Dieser schien am geeignetsten zu sein, die Organe einer jungen Frau zu erhalten, die nach einem Selbstmordversuch im Koma gelegen hatte. Die Familie hatte in Absprache mit den Ärzten entschieden, die Beatmungsgeräte auszuschalten.
Erneut heftete sich sein Blick auf die Niere. »Doktor Tod« nannte ihn dieser Peter Boutrup, und in gewisser Hinsicht entsprach das auch der Wahrheit. Der Tod folgte ihm überallhin. Das Leben auch, natürlich, das waren die beiden Seiten ein und derselben Sache. Er war der festen Überzeugung, dass für viele Aspekte des Daseins die Regel galt, dass jemand sterben musste, damit ein anderer leben konnte.
Er trat von einem Bein auf das andere und konnte sich nicht richtig überwinden. Es geschah selten, dass er vor dem Eingriff bereits erschöpft war, aber heute schien es ihm, als würde sein ganzer Körper schmerzen. Und wenn er die Augen nur für einen kurzen Moment schloss, dann sah er sofort kleine Sternchen. Er hatte in letzter Zeit nicht genug geschlafen, und das hatte nicht nur mit seiner Arbeit zu tun.
Dankbar für die Routine, die er sich in den vergangenen Jahren erarbeitet hatte, holte er einmal tief Luft und begann, die Niere an ihrem Platz anzuschließen. Langsam und mit routinierter |179| Geduld nähte er die Blutgefäße der neuen Niere an die Beckengefäße, die zum Bein des Patienten führten. Dann nähte er den Harnleiter in die Blasenwand ein, während seine Gedanken ihre eigenen Wege gingen.
Eigentlich hatte er keinen Grund, sich zu beklagen. Vor ein paar Monaten war er 48 geworden, und er hatte sich selbst nie als jemanden gesehen, der eine Familie gründen sollte. Die Karriere war sein Leben, das hatte er immer genau gewusst, und Liebe war etwas, was eilig dazwischengeklemmt wurde, wenn es die Zeit ergab.
Er starrte auf seine Latexhände, während er nähte. Warum aber hatte er dann dieses Gefühl, dass nichts so war, wie es sein sollte? Woher kam diese plötzliche, bohrende Unzufriedenheit? Midlife-Crisis? Diesem Wort würde er ansonsten keinen Platz in seinen Gedanken einräumen, aber in letzter Zeit hatte es ihn ein paarmal berührt. Aber da war noch was ganz anderes. Lena Bjerregaard war in sein Leben getreten.
»Janos?«
Die OP-Schwester stand neben ihm mit der Schere in der Hand. Er nickte in ihre Richtung und wandte seine Aufmerksamkeit wieder den Dingen zu, denen er sich gewachsen fühlte. Für diesen Augenblick hatte er jahrelang gelebt, und nur für diesen: Die Sekunde nach der Transplantation, in der die neue Niere ihre Feuerprobe bestehen musste.
Er machte den letzten Knoten, dann schnitt die OP-Schwester den Faden ab. Dann entfernte er die beiden Klemmen, die während der Operation die Blutzufuhr unterbrochen hatten. Und das Wunder ereignete sich wie so viele Male zuvor, begleitet von den erleichternden und fröhlichen Rufen des OP-Teams über die gelungene Arbeit. Denn die graue, leblose Niere veränderte vor ihren Augen langsam die Farbe und war schließlich glänzend und rosa. Das Organ, das noch vor wenigen Stunden im Körper eines sterbenden Menschen gewesen war, befand sich jetzt im Innern eines anderen Menschen und strotzte nur so vor Leben.
|180| Er reckte zwei blutverschmierte Daumen in die Luft und bekam diese Geste von allen erwidert. Dann begann er den Bauch wieder zu schließen.
Es war schon sehr spät,
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