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Der Menschensammler - Dicte Svendsen ermittelt Kriminalroman

Titel: Der Menschensammler - Dicte Svendsen ermittelt Kriminalroman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elsebeth Egholm
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aus einem Traum. Langsam nahm sie ihre Umgebung wieder wahr: das Steuer; den Schalthebel; die Dunkelheit draußen; den Rückspiegel, in dem sie ihr Gesicht hätte sehen können, wenn sie ihren Hals strecken würde. Das Leben war sonderbar. Sie hatte sich immer vorgestellt, dass eine Begegnung mit ihrem verlorenen Sohn ihrem Leben wieder Farbe geben würde. Stattdessen aber fühlte sie sich wie eine lebende Tote in einem farblosen Niemandsland.
    Sie warf ihr Handy in die Tasche, zog ihre Jacke zu, stieg aus und machte sich auf den Weg. Fahrlässige Tötung. Sie hatte keine Ahnung, wie sie es bewerkstelligt hatte, in die Redaktion zurückzufahren, nach ihrem Treffen mit diesem sonderbaren Mann im Skejby Krankenhaus, der eindeutig ihr Sohn war. Aber sie hatte es getan. Und während ihre Unterhaltung noch in ihren Ohren widerhallte, hatte sie sich an den Computer gesetzt und im Archiv von
Avisen
alles zusammengesammelt, was sie zu seinem Namen finden konnte.
    |186| Sie hatte jeden Artikel über seinen Fall und über das Verbrechen gelesen, das er begangen haben soll. Was allerdings stärker in ihr nachwirkte, war nicht etwa das Wesen der Tat als vielmehr seine Worte, mit denen er den Vorhang vor seiner Vergangenheit ein wenig gelüftet hatte.
    »Meine sogenannte Adoptivmutter wurde kurze Zeit, nachdem ich auf der Bildfläche erschienen war, schwanger. Und da sie sich verständlicherweise lieber um ihr leibliches Kind kümmern wollte, wurde ich zurück in die Obhut der Behörde gebracht. ›Blut ist am Ende doch immer dicker als Wasser‹, wie mein Arzt zu sagen pflegt.«
    Lässig hatte er das vorgetragen, wie ein Sprecher im Radio, der die Nachrichten vorliest.
    »Das war ein beschissener Start ins Leben, und leider wurde es nicht besser. Meine nächsten Adoptiveltern wurden vom Schicksal heimgesucht, als ich vier Jahre alt war. Die Frau starb an Krebs, und weil der Mann nicht in der Lage war, die drei Kinder zu versorgen, wovon zwei adoptiert waren, schritt das Jugendamt ein. Es nahm ihm alle drei Kinder weg, woraufhin sich mein Vater erhängte.«
    Der Blick, der auf Dicte ruhte, war leer. Seine Augen erinnerten sie an ihre eigenen und die ihrer Mutter, gleichzeitig aber doch nicht.
    »Aber es gibt nicht so viele, die einen vierjährigen Jungen adoptieren wollen, darum endete ich im Kinderheim. Ab und zu kamen uns Paare besuchen, die sich die Ware vorher ansehen wollten. Mich haben sie logischerweise nie genommen. Ich war groß und kräftig für mein Alter. Die wollten lieber ein kleines süßes Mädchen oder einen zarten Jungen mit großen braunen Augen.«
    Jetzt war sein Blick eindringlicher, und die Bitterkeit umgab ihn wie eine harte Schale. Er lachte, und sie fühlte sich dadurch bloßgestellt, denn es war kein freundliches Lachen. Er stieß sich vom Tisch weg, und Dicte registrierte, wie viel Anstrengung ihn das kostete.
    |187| »Aber Sie sollten dieser Geschichte nicht mehr Bedeutung zumessen, als sie verdient. Es könnte ja auch alles gelogen sein. Lassen Sie sich bloß nicht von Ihren Gefühlen davontragen.«
     
    Vorsichtig setzte sie in der Dunkelheit einen Fuß vor den anderen. War sie nicht vor einiger Zeit an einer Tankstelle vorbeigekommen? Sie war sich sicher, ein Neonschild von Statoil gesehen zu haben.
    Natürlich könnte sie seine Geschäfte als erfunden abtun. Aber im tiefsten Innern wusste sie es besser. Er trug ihre Gene in sich. In ihm konnte sie sich selbst und Rose wiedererkennen. Was war er für ein Mensch, wenn man die Geschichte von der Adoption und dem Verbrechen von ihm abkratzen würde? Was hatte er für Träume? Wie sah er aus, wenn er schlief? War er in der Lage, einen anderen Menschen zu lieben?
    Wie verhielt er sich, wenn er ganz allein war und kein Gegenüber hatte, vor dem er auf der Hut sein musste? Liebte er die Sonne und das Gezwitscher der Vögel oder war er eher der Typ, der sofort Fenster und Rollläden schloss?
    Plötzlich hörte sie ein Geräusch, während sie am Straßenrand entlanglief. Es war weder das Geräusch ihrer Schuhe auf dem Asphalt noch ihr eigener Atem oder das Rauschen der selten vorbeifahrenden Autos.
    Sie blieb stehen. All die Jahre war es verschwunden gewesen, wahrscheinlich hatte sie es verdrängt. Es waren die Laute seiner ersten Tränen, seines allerersten Schreis. Er war mit einer lauten, trotzigen Fanfare auf die Welt gekommen, die sich dann aber sofort in ein leises Gewimmer verwandelt hatte, als sie ihn ihr weggenommen und rausgetragen hatten. Ein

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