Der Menschenspieler
von ihnen redeten, nur um das Geräusch ihres eigenen Gesprächs zu hören. Nach ein paar Sekunden brachte Aldiss die Studenten zum Schweigen, indem er einen langen blassen Finger an die Lippen legte: »Schhhh.« Ruhe kehrte ein.
Er raschelte mit den Notizen vor sich auf dem wackligen Gefängnistisch und sagte: »Also, wer hat den Namen des Mannes im dunklen Mantel herausgefunden? Wer hat das Rätsel gelöst?«
Einen Moment lang sprach niemand. Dann hob ein Mädchen in der Mitte des Hörsaals langsam die Hand.
Alex hatte hin und her überlegt, ob sie etwas sagen sollte. Hatte Aldiss ihnen nicht gerade erklärt, er sei schuldig? Hatte er nicht die beiden Morde genau hier vor seinem Kurs gestanden, mit neun Zeugen und wer auch immer noch dieses verdammte Fernsehen schaute, um seine Worte zu hören? Sie dachte an das Buch, das so sorgfältig in ihrem Schreibtisch in Philbrick Hall versteckt lag. An die seltsame und quälende Botschaft darin. Richard Aldiss ist unschuldig. Erzählen Sie keinem Menschen, dass Sie das hier gesehen haben. Vielleicht sollte sie schweigen, so tun, als hätte sie das Ding nie gefunden.
Nein.
Nichts zu sagen würde bedeuten, einen möglicherweise unschuldigen Mann im Gefängnis sterben zu lassen. Vielleicht war das Eingeständnis seiner Schuld Teil seines Tricks. Teil von Aldiss’ Masterplan. Sie wusste, wenn das Buch und seine verborgene Botschaft echt waren, dann zählte Aldiss auf sie. Verließ sich auf sie, um den Hinweisen zu folgen …
Hinunter ins Kaninchenloch.
Sie hob die Hand.
»Ah, Ms Shipley«, sagte Aldiss, in seinen Augen oder seiner Stimme lag kein Zögern. »Erzählen Sie dem Rest der Klasse, was Sie gefunden haben.«
Weiß er Bescheid? , fragte sie sich. Kann er tatsächlich wissen, dass ich das Buch ausgeliehen habe? Falls ja, wie kann er dann so ruhig bleiben?
»Der Mann im dunklen Mantel«, sagte Alex, wobei sie versuchte, ihre Stimme zu finden. Ihre Zunge fühlte sich dick und geschwollen an. »Sein Name war …«
»Bitte, fahren Sie fort.«
»Der Name des Mannes lautete Charles Rutherford.«
Der Professor lächelte. Unwillkürlich empfand Alex Stolz.
»Der Lexikonvertreter?«, fragte jemand hinter ihr. Melissa Lee hatte in Jasper den Ruf, sowohl außergewöhnlich intelligent zu sein als auch einen Sexskandal ausgelöst zu haben, der während der letzten zwei Semester seinen Weg durch die Literaturfakultät genommen hatte. Sie war ganz in Schwarz gekleidet, und ihre Haare waren abwechselnd hell und dunkel gefärbt, was sie ein bisschen wie ein Tier aussehen ließ. Ihr Gesicht war totenblass, ein Stil, den die Studenten in Jasper inzwischen Goth nannten. Ihre Augen waren schwarz geschminkt, an ihren Ohren funkelten viele Ohrstecker, und ein höhnisches Grinsen spielte stets um ihre dunkellila Lippen. Auf ihrem T-Shirt stand heute Abend: KILL A POET . »Aber Rutherford ist ein Niemand. Ein Strohmann. Er war schon ein Jahr lang tot, als Die goldene Stille erschien, aber sie drucken sein Foto immer noch auf den Büchern ab, weil niemand sich der Rolle, die er spielte, sicher sein kann. Wie hat sie …« Lee sah Alex düster an, und Alex lächelte nur.
»Das ist genau der Punkt, Ms Lee«, sagte Aldiss. »Rutherford wurde zu einem zentralen Streitpunkt für Fallows-Forscher, eben weil er so ein unwahrscheinlicher Verdächtiger ist. Vor allem weil er 1974 an einer Hirnembolie gestorben ist. Ein Jahr später erschien Fallows’ zweiter Roman. Dann war da das Problem mit seinem sauberen, spießigen Image, typisch Mittlerer Westen. Als die Suche nach Fallows begann, glaubten viele, dass das Rutherford-Foto nichts als ein weiterer Trick war. Noch mehr Irreführung. Aber als die Wissenschaftler anfingen, sich eingehender mit Rutherford zu beschäftigen, entdeckten sie etwas sehr Interessantes.«
»Er war Schriftsteller.«
Aldiss sah auf die Studenten und fand denjenigen, der gesprochen hatte. »Das stimmt«, sagte er. »Sehr gut.«
Es war der Footballspieler, Jacob Keller. Er saß direkt rechts von Alex; sie schaute hinüber und traf seinen Blick. Er nickte ihr zu. Süß , dachte Alex, auf eine clevere Sportlerart . Sie hatte ihn auf dem Campus mit ein paar seiner Teamkollegen gesehen und ein paarmal in einer Bar namens Rebecca’s, wo er Footballstrategien auf Karteikarten studierte. Jetzt lehnte sich Keller vor und flüsterte: »Du und ich, Shipley, wir sind jetzt seine Lieblinge. Die einzige Frage ist, wo man unsere Leichen finden wird.« Alex unterdrückte ein
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