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Der Menschenspieler

Der Menschenspieler

Titel: Der Menschenspieler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Will Lavender
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aber ihr Lachen war gekünstelt, weil sie natürlich nachgerechnet hatten. Es war absolut möglich. »Noch etwas: Ohne zu wissen, wer Charles Rutherford war und aus welcher schillernden Stadt er kam, werden Sie nicht weiterkommen. Die Spur beginnt bei ihm – und genau da werden wir unsere Reise fortsetzen.«
    Anschließend sprachen sie über Die Windung . Die Eröffnungsszene spielt in Manhattan um 1900. Die Reise einer Frau namens Ann Marie, die von Iowa fortzieht und ihren Platz in der Welt findet. Es ist ein Gesellschaftsroman: Ann Marie entdeckt, dass die Kultur selbst der größten Stadt der Welt eine gebildete, selbstbewusste Frau nicht willkommen heißt. Jeder im Hörsaal hatte diese Art von Roman schon hundertmal vorher gesehen – aber Paul Fallows drückte dem Thema seinen eigenen Stempel auf. Dieses Buch war anders. Ann Maries Aufstieg hatte etwas Intensives, etwas fast Vorbestimmtes . Eine verdeckte, andauernde Brutalität rauschte knapp unter der Oberfläche der Geschichte. An einer Stelle in den fünfzig Seiten, die sie lesen sollten, bringt Ann Marie den Antagonisten des Romans, einen geisterhaft blassen frauenfeindlichen Anwalt namens Conning, in das Gebäude in Chelsea, wo sie mit einem älteren Onkel wohnt. Nachdem sie den Mann im ersten Stock des übervollen Hauses mit vielen Zimmern in die Falle gelockt hat, zieht sie sich in den Salon zurück, um mit ihrem Onkel Twinings Tee zu trinken.
    Aldiss fesselte die gesamte Zeit über ihre Aufmerksamkeit. Er führte sie tief in den Roman, tauchte in die offensichtliche Symbolik und die indirekteren Passagen ein und wieder auf, sprach über das Buch, als wäre es lebendig. Er las Seiten laut vor. Dabei sprach er eine Oktave höher, wenn er Ann Marie verkörperte, was ihm derart präzise gelang, dass jeder von ihnen seine Stimme hörte, als sie in dieser Nacht in ihren Wohnheimen das Buch lasen.
    Am Ende des Seminars war er außer Atem, Schweiß glänzte auf seiner Stirn. Alex betrachtete den Mann, erstaunt darüber, wie viel Bedeutung er dem Text abgewonnen hatte.
    »Also«, sagte der Professor und schaute auf die Eieruhr auf seinem Tisch. Es waren nur noch wenige Minuten übrig. »Für nächste Woche die folgenden fünfzig Seiten von Die Windung und alles, was Sie über Charles Rutherford finden können. Ich würde vorschlagen, Sie beginnen damit, sich seine Heimatstadt Hamlet in Iowa näher anzuschauen. Ein sehr interessanter Ort. Und natürlich gibt es bei Fallows auch sehr viele Verweise auf Iowa. Haben Sie noch Fragen an mich?«
    Alex beobachtete Aldiss. Sie wusste, dass ihr die Zeit davonlief und er ihr nur sehr wenig gegeben hatte, mit dem sie weitermachen konnte. Er hatte ihr nicht gesagt, was sie als Nächstes tun, wohin sie sich wenden sollte. Wenn sie der Botschaft im Buch folgte, dann brauchte sie seine Hilfe. Aber wie? Welche Fragen sollte sie stellen, und wie sollte sie sie stellen, ohne dass der Rest des Kurses – erzählen Sie keinem Menschen, dass Sie das hier gesehen haben – etwas merkte?
    Nur noch neunzig Sekunden. Neunzig Sekunden, bis die Übertragung beendet würde.
    »Also keine Fragen?«
    Sechzig Sekunden. Sie stellte sich Aldiss vor, seinen langen Weg zurück in die Zelle, diese zwei gesichtslosen Wachen vor ihm, die Tür, die ihn einschließt. Das Leben des Professors, Schatten und Wörter und die entsetzlichen Schreie der anderen gefangenen und verdorbenen Männer. Seine Aufregung, wenn er etwas fand, neue Informationen entdeckte, und alles, wozu es geführt hatte, war das hier. Ein stummer Hörsaal, ein ängstliches Mädchen. Alex stellte sich vor, wie enttäuscht, wie wütend er über sie sein musste.
    Richard Aldiss ist unschuldig.
    Dreißig Sekunden.
    Mach schon, Alex, sag was.
    Zwanzig Sekunden und …
    »Was ist in Hamlet?«
    Aldiss sah sie an. Der Blick des Professors veränderte sich, wurde ernster. Intensiver. Es war, als gäbe er nur ihr eine Information. Als ob sie und der Professor ein Gespräch führten, getrennt von den anderen Studenten. Sie hatte das Gefühl, als sei der Hörsaal verschwunden, und sie starre in einem leeren, elektrisch blauen Raum auf den Fernsehschirm.
    »Ich schlage vor, meinen Freund Dekan Stanley Fisk zu fragen«, sagte Aldiss. »Er kann Ihnen viel über Hamlet erzählen.«
    Und damit wurde die Übertragung beendet, und der Professor verschwand wieder einmal.
    Nach dem Kurs ging sie durchs Schneetreiben nach Hause. In der Ferne, über dem Tal des westlichen Campus, schäumten die mit Eis

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