Der Menschenspieler
Keller.
Alex hielt die Luft an. Sie wollte nicht so zurückgelassen werden. Nicht nach den Informationen, die sie von Dekan Fisk bekommen hatte. Nicht nach diesen Tatortfotos. Sie hatte das Gefühl, dass sie nah dran war, als bekäme die Botschaft aus dem Buch endlich eine reale Bedeutung.
»Sollen wir auf ihn warten?«, fragte Lee in genervtem Tonfall.
Aber bevor jemand antworten konnte, krächzte das Fernsehgerät, und das Bild kehrte zurück. Ein anderer Mann saß an Aldiss’ Tisch. Er trug einen grauen Anzug und eine winzige Brille, die sein Gesicht kleiner wirken ließen. Der Mann starrte ernst in die Kamera.
»Mein Name ist Jeffrey Oliphant«, sagte der Mann, langsam und leiernd. »Ich bin der Leiter der Rock Mountain Correctional Facility. Ich muss Ihnen leider sagen, dass Dr. Aldiss heute Abend nicht mehr in der Lage ist weiterzumachen. Er ist in seine Zelle zurückgebracht worden und wird von unserem medizinischen Dienst untersucht. Er hat Ihnen ja gesagt, dass er an einer seltenen neurologischen Krankheit leidet. Es ist aber nichts, worüber man sich Sorgen machen müsste. Wenn er dazu in der Lage ist, wird Ihr Kurs am nächsten geplanten Termin weitergehen. Vielen Dank für Ihr Verständnis.«
Der Bildschirm wurde wieder schwarz.
Und was soll ich jetzt tun? , fragte sich Alex.
Sie ging mit Keller zusammen nach Hause.
Die Luft war nicht mehr so kalt wie vorige Woche. Studenten gingen nach draußen, liefen über die Höfe, manche saßen auf den Campusbänken. Besseres Wetter gab es nicht im Januar in Vermont.
»Denkst du immer noch, er lügt?«, fragte sie Keller. Sie fühlte sich zu ihm hingezogen. Albern, ja, das gab sie zu. Ein mädchenhaftes Spiel, das sie mit sich selbst spielte. Es war nur ein Spaziergang durch den Schnee gewesen. Aber sie hatte das Gefühl, ihm vertrauen zu können.
Fast.
»Schwer zu sagen«, sagte Keller. Der Schnee hatte schon begonnen zu schmelzen, und die Wege waren zu Matsch geworden, die Verwehungen schmolzen und füllten die Höfe mit einem dunklen zähflüssigen Schlamm. »Mir tut der arme Scheißkerl tatsächlich leid.«
»Das sollte er nicht«, sagte Alex. »Er hat …« Sie hielt inne.
»Ich weiß, ich weiß. Diese toten Mädchen. Es ist nur so, dass er so erbärmlich ist, gefangen in dieser Zelle mit seinen Wachen. Und was heute Abend passiert ist. Kannst du dir das vorstellen?«
»Nein.«
»Ich mir auch nicht. Ich glaube, ich würde mich umbringen. Es einfach beenden.« Dann blieb Keller stehen, er schien über etwas nachzudenken. »Kann ich dich was fragen?«
»Nur zu.«
»Wer von uns ist Aldiss’ Liebling?«
Sie dachte an das Buch in ihrem Zimmer. »Keine Ahnung«, sagte sie.
»Ich glaube, es ist Daniel Hayden.«
»Das meinst du nicht ernst.«
»Schau dir den Typen an, Alex. Er wollte den Kurs nie wirklich verlassen. Er ist genau wie Aldiss, es gefällt ihm, diese Spiele zu spielen und zu sehen, wie viele Leute er auf seine Seite ziehen kann. Für den Typen ist alles ein Spiel. Er ist der Einzige dort, der …« Nicht so ist wie der Rest von uns , sie wusste, dass Keller das sagen wollte.
»Mag sein.«
»Du bist immer noch nicht überzeugt.«
Alex dachte nach, stellte sich die Gesichter der Studenten vor. Wie sie mit Aldiss interagierten und wie er sie manipulierte. Ein starkes Wort, aber so fühlte es sich an: dass er irgendwie mit ihnen spielte, sie mit seinem Versprechen zu Fallows vorantrieb. Das war seine Karotte an einem Stab. »Ich habe eigentlich das Gefühl, dass Aldiss keinen von uns mag«, sagte sie. »Jedenfalls nicht richtig. Der ganze Kurs ist mir nicht geheuer.«
»Du meinst, Lösung eines literarischen Rätsels ist nicht dein absoluter Lieblingskurs?«, sagte er in einem gespielt ernsten Tonfall, mit starkem, peniblem Akzent. Alex musste lachen.
»Das ist es nicht«, sagte sie. »Ich fühle mich einfach merkwürdig, wenn ich in diesem Raum bin. Ich weiß nicht. Es klingt dämlich.«
»Nein«, sagte er. »Rede weiter. Was?«
»Ich habe das Gefühl, dass Aldiss mit uns spielt«, sagte sie. »Als wäre er der Puppenspieler und wir seine Marionetten.«
»Du kannst jederzeit aufhören, Alex. Das weißt du.«
Sie sah weg. »Ich weiß. Wahrscheinlich bin ich nur paranoid. Aber trotzdem, da ist irgendwas unter der Oberfläche. Es brodelt .«
»Es brodelt? Sind wir hier in einer Kochsendung?«
Sie stupste ihn an, fühlte, wie sich seine Muskeln unter dem Flanellhemd anspannten, und spürte etwas anderes tief in ihrem Bauch
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