Der Menschenspieler
zucken.
Ein Augenblick des Schweigens verging. Sie sah Philbrick Hall vor sich.
»Wir sollten mal zusammen lernen«, sagte Keller.
»Ja«, sagte sie. Ja? Wie blöd kann man sein!
»Wie wäre es mit morgen Abend? Wir könnten zusammen Fallows lesen. Das großartige, geheimnisvolle Die Windung . Wir könnten das Geheimnis gemeinsam lösen.«
»Klingt gut.«
»In meiner Stammkneipe«, sagte Keller. »Rebecca’s. Punkt sieben.«
»Abgemacht.«
Keller nickte und ließ sie dort auf dem Weg zurück. Als sie das Wohnheim betrat, merkte sie, dass sie aufgehört hatte zu atmen.
16
Am nächsten Morgen kehrte Alex zu Dekan Fisks Haus auf dem Hügel zurück. Dieses Mal erwartete der alte Mann sie.
»Erzählen Sie mir von Iowa«, sagte sie, als sie im Salon saßen. »Professor Aldiss meinte, wir sollten dort beginnen, in Rutherfords Geburtsort. Ist da etwas passiert?«
»Viele von Fallows’ Protagonisten stammen aus Iowa«, sagte Fisk. »Und Charles Rutherford auch. Man nahm immer an, dass Iowa der Ursprung ist, die Mitte der Landkarte. Wenn man Fallows finden wollte, dann fing man dort an.«
Sie merkte, dass er zögerte. »Aber …«
»Richard stimmte dem nicht zu. Wenigstens anfangs. Er hatte das Gefühl, dass Iowa ein Ablenkungsmanöver war, bloß ein weiteres ›Autorenporträt‹ des Lexikonvertreters. Fallows schrieb über New York, über Europa. Er schickte seine Manuskripte mit europäischen Poststempeln. Es war, als wäre das Ganze eine Farce, als hätte Fallows bewusst dieses Nichts mitten in Amerika als Ausgangspunkt für die Reisen seiner Charaktere gewählt. Es war der reine Fallows: Die Tatsache, dass es etwas zu bedeuten schien, ließ vermuten, dass es das eben nicht tat.«
»Und die Stadt, aus der Rutherford stammt?«
»Hamlet. Die reine Leere.«
»Ist Aldiss dorthin gefahren? Vorher, meine ich.«
»Das ist er. Er und Locke.«
»Locke?«
Fisk war überrascht. »Richard hat Ihnen noch nichts von Benjamin Locke erzählt? Ah, dann haben Sie Ihren Abendkurs noch gar nicht richtig begonnen.«
»Wer war das?«
Fisk lehnte sich auf dem Sofa zurück und schlug die Beine übereinander. »Dr. Benjamin Locke war eine Kultfigur an der Dumant University«, begann er. »Richard hat in Dumant studiert und ist dann natürlich Professor geworden. Locke war so eine Art Professorenrebell. Die Frauen in Dumant liebten ihn, die Männer wollten so sein wie er. Er war der Dreh- und Angelpunkt der Studentenbewegung der frühen Siebziger, er trug Schlaghosen und Glasperlen zu seinen Vorlesungen. Ich habe ihn einmal getroffen, ich glaube, das war ’71. Er war mehr Student als Professor, aber er glühte fast vor Genie. In dieser Hinsicht war er Richard sehr ähnlich.«
»Und er hat Professor Aldiss unterrichtet?«
»Ja. Locke unterrichtete Kritische Theorie. Sie müssen wissen, dass Locke ganz der Raymond-Picard-Schule anhing. Er behandelte Literatur, als wäre sie nur eine Abfolge mathematischer Muster und als wäre es die Aufgabe des Lesers, diese Muster aufzulösen und in das Loch hineinzukrabbeln. Direkt in die Innereien des Buchs.«
In das Loch , dachte sie. Das Kaninchenloch .
»Es war, als würde Ben Locke an so einer Art Maschine herumfrickeln«, fuhr Fisk fort. »Vor den Augen seiner Klasse schnitt er die Cover der Bücher und einzelne Seiten heraus; er zerstörte die Bücher, damit er sie Stück für Stück analysieren konnte.«
Alex dachte an die Seiten, die Aldiss während des Abendkurses vor die Kamera gehalten hatte.
»Ich vermute, Richard sah darin eine Art Kunst«, sagte Fisk. »Eine Art Wahrheit. Natürlich waren sie von dem Moment an unzertrennlich, als Locke erkannte, wie kraftvoll Richards Verstand war.«
»Es war Locke, der Dr. Aldiss zu Paul Fallows brachte?«
»Ja. Damals war Fallows ein Unbekannter, aber Locke änderte das bald. Es war 1972. Die goldene Stille war noch nicht erschienen, und viele glaubten, dass Fallows nur einer unter vielen war. Vielleicht eine modernere Version von Edith Wharton. Tatsächlich war es Benjamin Locke, der als erster Forscher die Theorie vertrat, dass Paul Fallows eigentlich eine Frau war.«
Alex dachte darüber nach. Es passte zu den ungefähr hundert Seiten, die sie von Die Windung gelesen hatte. Der Stil hatte etwas beinahe Feminines.
»Sie meinten doch, dass Benjamin Locke die Wahrnehmung von Paul Fallows verändert hat«, sagte sie. »Wie hat er das gemacht?«
»Indem er sehr sorgfältig vorgegangen ist«, erwiderte Fisk. »Er hat eine
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