Der Menschenspieler
ist das?
Sie öffnete das Buch und sah, was sich darin befand.
Die Seiten waren ausgeschnitten worden. Der Text war in eine präzise Form geschnitten und ein Gegenstand in das Loch gelegt worden. Er passte ganz genau; als sie das Buch umdrehte, fiel die Pistole langsam heraus in ihre Hand.
Sie hatte ihre Waffe.
Der Kurs
1994
19
Als Alex an diesem Mittwochabend in die Fisk-Bibliothek kam, um Fallows zu Ende zu lesen, schlug sie Die Windung auf und fand darin eine Notiz. Sie war auf ein kleines Blatt Papier geschrieben, nicht größer als eine Glasscherbe. Darauf stand: Finden Sie etwas über die Prozedur heraus.
Ihr Rucksack – hatte sie ihn irgendwo auf dem Campus stehen lassen? Sie ging im Geiste noch mal ihren Tag durch: Mittagessen in der Mensa, 13:00 Uhr mit Dr. Mew ( Japanische Literatur nach der Bombe ), nachmittags Lernen in Lewis Prines Wohnheimzimmer, dann zurück in ihr Wohnheim, um den Fallows zu holen. Jemand hatte sich ihr Buch genommen.
Sie sah sich um, die Paranoia saß ihr im Nacken. Zwei Tische weiter arbeitete eine Gruppe Studenten an einem Physiktext. Auf der anderen Seite der Bibliothek saß ein einsamer Leser an einem beleuchteten Arbeitsplatz. Ein paar andere spazierten faul durch die Regalreihen. Ansonsten war die Bibliothek leer und ruhig. Sie hielt die Notiz in der Hand.
Finden Sie etwas über die Prozedur heraus.
Alex hatte den Ausdruck irgendwo schon einmal gehört. Hatte Aldiss ihn in einer seiner Vorlesungen benutzt? Hatte sie ihn irgendwo gelesen? Wieder schaute sie sich in der Bibliothek um. Ein Junge hob den Blick, um sie anzusehen. Er war ein Student im zweiten Jahr mit langen Haaren aus der Kappa-Tau-Verbindung, mit dem sie auf einer Party mal getanzt hatte – sie sah weg. Sie hatte das vage Gefühl, dass sich etwas löste wie ein Faden von einer Spule. Die Prozedur – hatte sie das in einem Buch gesehen? Sie hielt inne, ihre Hände zerknüllten die Notiz geistesabwesend in ein brutales Origami, während sich ihr Atem beschleunigte. Ein Buch , dachte sie. Das ist es .
Sie stand auf und ging los, den Rucksack über der Schulter. Nach draußen in die beißende Kälte und über den Rasen nach Philbrick Hall. Der Tag ging zu Ende, die Bäume standen im blutroten Sonnenlicht. Die alte Alex wäre stehen geblieben und hätte sich das angeschaut und vielleicht genossen. Die ruhigen Höfe, den diamanten glitzernden Schnee auf dem Boden. Aber das war die neue Alex, das Mädchen, das durch den Abendkurs verändert worden war. Von Aldiss. Sie trieb ihre Beine an, ging schnell, der Wind stach wie mit tausend Nadeln in ihre Wangen. Sie betrat das Wohnheim, atmete die warme Luft ein und nahm den Aufzug zu ihrem Zimmer.
Das Buch lag genau dort, wo sie es versteckt hatte.
Gedankenspiele von Richard Aldiss. Einen Augenblick lang stand sie in dem leeren Zimmer und dachte darüber nach, wie sich ihr Leben dadurch verändert hatte. Ein schmales Buch, eine Sammlung von Seiten, von billigem Leim zusammengehalten. Ein kleines Ding und doch so mächtig. So tiefgründig.
Wie schon vor zwei Wochen nachts in der Bibliothek suchte Alex im Index. Es war leicht zu finden, es gab über zehn Fundstellen. PROZEDUR , DIE . Sie überflog die Untertitel und wählte eine Seite aus: REGELN , VARIATIONEN . Mit zitternden Händen schlug sie die Seite auf.
Es war ein Spiel. So viel war sofort klar. Alex schaute über den Text, stellte sich mit dem Rücken zur Tür, falls ihre Zimmergenossin zurückkommen sollte. Aber dieses Spiel – es war ungewöhnlich. Es wurde nur von denen gespielt, die Aldiss »die Erleuchteten« nannte, Fallows-Forscher, die in den Texten bewandert genug waren, um mitzuhalten. Und da war noch etwas, etwas an dem Tonfall, in dem Aldiss die Prozedur besprach. Eine gewisse demütige Haltung, die sie in keinem anderen seiner Werke bemerkt hatte. Augenscheinlich war dies dem Professor ein besonderes Anliegen. Er wollte, dass der Leser verstand, dass dieses Spiel und diese Seiten wichtig waren.
Ein Abschnitt fiel ihr besonders auf.
Ein Spiel, ja, aber die Prozedur ist kein unschuldiger Zeitvertreib für Kinder. Zur Hälfte Erinnerungswettbewerb, zur Hälfte Rätsel lautet das Ziel wie folgt: Szenen aus Paul Fallows’ Romanen so perfekt, wie es einem möglich ist, nachzuspielen. Es gibt verschiedene Ebenen der Komplexität – vom wahren Meister bis zum Neuling, der nur eine neue Erfahrung auf dem Campus sucht –, aber Form und Funktion der Prozedur sind immer dieselben. Es ist eine
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