Der Menschenspieler

sagte sie in die Dunkelheit hinein. »Keller, bist du das?«
    Sie lauschte, ihr Herz klopfte ihr bis zum Hals. Nichts.
    Sie ging los, blieb aber wieder stehen. Etwas bewegte sich, der Schatten von jemandem, der durch das Zimmer am Ende des Korridors huschte.
    »Wer ist da?«, rief sie. »Ich kann nichts sehen. Ich kann nichts …«
    Wieder Stille. Verdammt, Alex, du jagst dir selbst Angst ein.
    Sie trat zurück in die Dunkelheit und tastete sich die abblätternde Tapete entlang, bis sie ihr Zimmer gefunden hatte. Dann ging sie hinein und machte die Tür zu. Schloss sie ab.
    Einen Augenblick lang stand sie da, keuchte, mit dem Rücken an der Tür. Sie verfluchte sich dafür, dass sie hier war, dass sie sich in diese Situation gebracht hatte.
    Dann ging sie zum Bett, öffnete die Schublade eines Beistelltischs und fand darin einen Stift. Außerdem lag da ihre Ausgabe von Christian Kanes Barker im Spiel ; sie legte das Taschenbuch auf ihre Knie und schrieb an den Rand einer Seite, was sie bisher in Erfahrung gebracht hatte.
    Melissa Lee: Entfernung zum Campus: Wohnt weiter weg in Vermont. Motiv: Unklar. Benutzt Sex immer noch wie zu Studienzeiten – zur Machtausübung, als Druckmittel?
    Frank Marsden: Entfernung zum Campus: Wohnt die meiste Zeit in Kalifornien. Motiv: Mögliche Abneigung gegen Eifersucht auf Michael Tanner, genau wie im Abendkurs.
    Sally Tanner: Entfernung zum Campus: Wohnt hier. Motiv: Entdeckte möglicherweise etwas Interessantes über ihren Ehemann, etwas Belastendes (bezüglich Fallows?).
    Lewis Prine (noch nicht angekommen, muss ihn vor dem Schlafengehen noch einmal anrufen): Entfernung zum Campus: Wohnt und arbeitet in Vermont. Motiv: Verbindung zum letzten existierenden Fallows-Manuskript. Könnte recht haben mit seiner Vermutung, dass es existiert und in Fisks Haus versteckt ist.
    Christian Kane: Entfernung zum Campus: Nah. Motiv: Hat während der Prozedur mit Michael Tanner zu tun gehabt. Hat in einen seiner Romane einen Tatort eingebaut, der dem von Dumant/Tanner gleicht. Scheint auffällig darum bemüht, sich entlasten zu wollen.
    Jacob Keller: Entfernung zum Campus: Nah. Motiv:
    Sie lehnte sich zurück und sah sich ihre Notizen an. Sie fragte sich noch einmal, ob Aldiss recht damit hatte, dass es einer ihrer alten Freunde war. Fragte sich, ob Keller irgendwie damit zu tun haben könnte. Unerklärlich, und doch …
    Sie wandte sich wieder ihren Notizen zu:
    Jacob Keller: Entfernung zum Campus: Nah. Motiv: Hat das Fallows-Manuskript gestohlen.
    Sie legte den Stift ab und sah sich die sechs Namen an. Während sie sie betrachtete, tauchten plötzlich Bilder vor ihrem inneren Auge auf: die Tatortfotos, die sie am Morgen gesehen hatte. Michaels blutiger Körper, gebrochen und zerstört, die – wie hatte Keller gesagt? Die Brutalität . Die Abscheulichkeit. Und jemand hier, einer der Menschen, denen sie einmal vertraut hatte und mit denen sie im Abendkurs gelernt hatte, könnte der Schuldige sein.
    Plötzlich überkam sie die Erschöpfung. Sie hatte das Gefühl zu fallen, sanft zu sinken …
    Noch ein Geräusch aus dem Korridor. Alex saß aufrecht im Bett, ihre Sinne hellwach. Auf alles gefasst.
    Sie starrte auf die Tür. Hörte es noch einmal: ein schlurfendes Geräusch, das Geräusch von jemandem, der geht. Näher kommt.
    »Wer …«, begann Alex, aber ein Klopfen brachte sie zum Schweigen.
    Sie ging zur Tür und öffnete sie einen Spalt breit. »Ja?«
    »Hey, ich bin’s.« Keller.
    »Ich bin müde«, sagte sie.
    »Ja. Natürlich.« Seine Stimme klang enttäuscht. »Da ist etwas für dich gekommen.«
    »Was?«
    »Hier.« Er gab ihr etwas durch den Spalt. Es war ein Umschlag, dick und unförmig, auf dem nur ALEXANDRA SHIPLEY in einer zackigen, ungestümen Handschrift stand. »Jemand hat an die Haustür geklopft. Wir dachten, es sei ein weiterer Reporter, und haben nicht reagiert. Als Christian zum Rauchen rausging, hat er das auf der Türschwelle gefunden.«
    »Danke, Keller.«
    »Kein Problem.«
    Er zögerte an der Tür. Sie spielte mit dem Gedanken, ihn hereinzubitten, aber dann erinnerte sie sich an Peter, ihren Freund, daheim in Cambridge. Sie erinnerte sich an das fehlende Manuskript.
    »Gute Nacht«, sagte sie und schloss die Tür.
    Alex nahm den Umschlag mit ins Bett und öffnete ihn im fahlen Lampenlicht. Sie schüttete den Inhalt aufs Bett: ein Buch. Es war ein Fallows, eine Erstausgabe der Goldenen Stille . Sie drehte es um und sah das Foto von Charles Rutherford auf dem Rücken.
    Was