Der Menschenspieler
Methode der Dekonstruktion, eine Methode, die Texte auf eine völlig neue Art außerhalb eines staubigen Hörsaals zu begreifen. In den Seiten selbst zu graben.
Neben diesem Abschnitt befand sich ein Foto. Es zeigte eine Gruppe Studenten auf einem Campus, eindeutig in der Mode der Achtzigerjahre gekleidet, die miteinander sprachen. Irgendetwas an ihren Gesichtern, ihrer Haltung und ihrer Kleidung fiel Alex sofort auf. Sie schauspielern , dachte sie. Es ist, als wären sie Teil einer Produktion irgendeines Stücks .
Sie las weiter. Sie las über Variationen des Spiels, wie es erfunden worden war (in Yale, vielleicht von Benjamin Locke, obwohl das umstritten war), seine Regeln und Ziele. »Manche glauben, dass man Fallows nicht verstehen kann«, schrieb Aldiss, »wenn man nicht lernt, die Prozedur zu spielen. Dass man die zwei existierenden Romane nicht wirklich durchschauen kann, bis man während des Spiels erleuchtet wird. Und wenn man die Romane nicht entschlüsselt, wenn man sie nicht ganz versteht, wie sollte man dann mit der Suche nach Paul Fallows überhaupt beginnen?«
Alex vertiefte sich weiter in das Buch. Es tauchten viele Verweise auf die Prozedur auf. Es gab andere Fotos mit Spielern; es gab ein simples Diagramm, wie die Prozedur bewertet und wer zum Sieger erklärt wurde. Aber beim Lesen wurde eines klar: Man wusste nie, wann sie begann. Die Prozedur konnte jederzeit und überall anfangen, und der Spieler ahnte es nicht einmal. Eine Zeile von Fallows wurde zitiert, und der Spieler musste entsprechend darauf reagieren in der Rolle, wie sie im Roman vorgesehen war. Das war das Spiel, das war der Wettbewerb von Verstand und Erinnerung. Man musste schlichtweg darauf vorbereitet sein, jederzeit damit anzufangen.
»Es könnte jetzt geschehen«, schrieb Aldiss. »Es könnte Ihnen geschehen, wo auch immer Sie sich befinden, und Sie müssten einfach nur reagieren.«
An diesem Abend kam sie zu spät zum Kurs. Rasch ging sie in den Kellerraum und setzte sich auf ihren Platz. Sie sah die anderen an, überflog den kleinen fensterlosen Raum. Wer von ihnen hatte den Zettel in ihr Buch gelegt? Wer hatte sie zu Nachforschungen über die Prozedur geschickt? Als sie die erste Reihe erreichte, erstarrte sie; Michael Tanner sah sie direkt an.
Einen Augenblick lang nahm keiner den anderen wirklich wahr. Alex spürte ihren eigenen Atemrhythmus, fühlte ihren Puls hämmern. Der Junge sah sie weiter an.
Warst du das? , fragte sie lautlos und sah zu den anderen. Niemand hörte zu. Jacob Keller lachte über irgendeinen Witz, den Daniel Hayden erzählt hatte. Christian Kane schrieb etwas in sein rotes Notizbuch, wahrscheinlich eine weitere seiner merkwürdigen Geschichten. Melissa Lee war versunken in die Lektüre, die sie noch nachzuholen hatte. Alex sah Tanner wieder an, sah, dass er ihre Frage nicht gehört hatte. Er lehnte sich vor.
Hast du den Zettel in mein Buch gesteckt?
Aber seine einzige Antwort war eine Gegenfrage. Alex folgte seinen Lippen.
Magst du diesen Kurs?
Instinktiv zuckten ihre Augen nach oben, der Bildschirm war noch schwarz.
Nein , erwiderte sie.
Ich auch nicht , sagte er. Niemand tut es.
Dann tanzte ein Schatten auf der Wand, und Michael drehte sich schnell um. Als Alex den Blick hob, war Aldiss bereits auf dem Bildschirm erschienen. Hatte er sie sprechen sehen? Aber der Gedanke wurde durch das Aussehen des Mannes schnell vertrieben.
Er war ungepflegt, sein Haar in wilden Strähnen und seine Augen rot vor Erschöpfung. Der Kragen seiner orangefarbenen Uniform saß nicht in der Mitte, als wäre er von einem der Wachmänner auf den Sitz gezerrt worden. Und da war noch etwas, etwas noch Seltsameres: Der Mann war ihnen näher gekommen. Vielleicht hatte die Kamera sein Gesicht näher herangezoomt, vielleicht hatte man seinen Stahltisch einen knappen halben Meter weiter nach vorn geschoben – irgendetwas hatte sich jedenfalls verändert. Der Professor war in den Fokus gerückt, war zum absoluten Mittelpunkt des Raums geworden. In der Ecke, nahe der schalldämmenden Decke und oberhalb der westlichen Wand, rückte ihnen das rote Auge ihrer eigenen Kamera zu Leibe.
»Entschuldigen Sie«, begann Aldiss, seine Stimme gebrochen und undeutlich, »was am letzten Abend, an dem wir uns gesehen haben, geschehen ist. Meine Anfälle … sie überkommen mich so plötzlich, dass ich nichts dagegen tun kann. Als Kind nannte ich sie Fluchten. Ich habe mich schrecklich dafür geschämt, und die anderen Kinder
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