Der Menschenspieler
Seite 97.«
Alex las.
Es war eine Szene aus der Heimat der Heldin in Hamlet, Iowa. Sie plant ihre Reise nach New York, die Reise, die ihre Befreiung sein wird. Alex las die komplette Seite zweimal, fand aber nichts Bedeutendes. Gar nichts.
»Ich verstehe es nicht, Keller«, sagte sie. »Für mich ist das bloß eine Szene. Nur Wörter.«
»Sieh noch mal hin.«
Sie seufzte. Sie hasste diese Tests. Aldiss, Fisk und jetzt Keller – Test auf Test, Fehdehandschuh auf Fehdehandschuh. Nichts konnte einfach sein.
Sie las abermals. In der Szene erklärt Ann Marie ihrer Mutter, dass sie nach New York gehen werde und dass ihre Entscheidung endgültig sei. Auf der East Side gebe es eine Wohnung für sie, ein älterer Onkel würde sie bei sich aufnehmen. Unten auf Seite 97 sagt Ann Marie: »Das möchte ich tun, Mutter. Ich werde Hamlet morgen verlassen.« Ende der Seite. Nichts.
Alex wollte schon die Hände in die Luft werfen und Keller sagen, dass sie nichts gefunden habe. Sie war offensichtlich nicht so klug wie er. Natürlich hatte sie auch noch anderes im Kopf, davon könnte sie ihm erzählen. Andere, dunklere Dinge, die sie über Aldiss herausgefunden hatte und …
Aber dann. Dann sah sie es.
Der Fleck. Seine Form. Das winzige Körnchen, der schattenhafte Klecks am Rand von Seite 97. Er sah aus wie …
Er zeigte irgendwohin.
Zeigte auf eine Zeile in der Seitenmitte. Der Rand des Flecks deutete wie ein Pfeil auf den Text und zog ihren Blick nun dorthin. Es war unverkennbar, und Alex schimpfte mit sich, weil sie es beim ersten Mal übersehen hatte.
Eine Karte , dachte sie noch einmal. Und jede Landkarte hat eine Legende.
Sie starrte auf den Fleck, dann legte sie ihren Fingernagel auf die Seite und schaute direkt auf die entsprechenden Zeilen. Während sie dies tat, sah sie Keller lächeln.
Die Zeilen lauteten:
… in diesem Jahrhundert muss eine Frau im Zentrum von allem sein, dachte Ann Marie. Sie muss das Herz der Materie sein, das absolute Zentrum – Platons flüssiges Gold.
Alex las die Zeilen ein zweites Mal, dann sah sie Keller an. Er hatte sein Bier an den Lippen, lächelte aber weiter.
»›Platons flüssiges Gold‹?«, sagte Alex laut. Der Ausdruck sprang einen förmlich an.
Keller zuckte mit den Schultern. »Da bin ich überfragt. Jetzt bist du dran, Ms Harvard.«
»Ich habe den Ausdruck noch nie in meinem Leben gehört«, sagte sie.
»Dann stecken wir wohl fest.«
»Aber dieser Fleck muss etwas bedeuten, Keller. Das muss er.«
Er zuckte mit den Schultern. Sie sah ihn nachdenklich an.
»Lass uns das durchdenken«, sagte sie leise. »Wer war Platon?«
»Alex.«
»Ich meine es ernst, Keller. Wer war er?«
Der Junge seufzte. »Antiker Philosoph. Ein Grieche mit schickem Bart. Sokrates war sein Aldiss, und er war der von Aristoteles. Hat ein paar Leute aus einer Höhle befreit.«
»Was noch?«, fragte Alex.
Keller sah sie an. Schüttelte den Kopf.
»Da muss es etwas geben, Keller. Das muss es einfach.«
Sie ging es in Gedanken durch, suchte nach Verbindungen. Keller hatte so viel entdeckt, hatte die Markierung im Buch gefunden und die seltsame Zeile mit ihrer bizarren Sprache, und sie wusste, dass die Puzzleteile zusammenpassen mussten. Sie wusste, dass etwas geschah, sie konnte es spüren. Aber es würde nicht wie von Zauberhand geschehen, die Tür zu Paul Fallows’ Identität würde sich nicht von selbst öffnen.
Platons flüssiges Gold , dachte sie wieder. Ihre Augen waren geschlossen, und sie massierte mit den Fingern ihre Schläfen. Das tat ihr Vater immer, wenn er intensiv nachdachte; so hatte sie es ihn tun sehen, als die Kopfschmerzen begannen. Komm jetzt zurück, Alex , sagte sie sich und dachte an Öl. Dachte an Texas. Zog Verbindungen, die definitiv nicht griechisch waren, sodass sie merkte, wie sie die Zeile und den Text und die Markierung und alles andere aus den Augen verlor – und Scheiße. Nur Scheiße.
Platons flüssiges Gold, Platons …
»Aldiss«, sagte sie.
Keller sah auf. »Was?«
»Etwas, was du vorhin gesagt hast. Von wegen, Sokrates war Platons Aldiss. Was hast du damit gemeint?«
»Sokrates war Platons Mentor«, sagte Keller. »Aldiss ist jetzt unser Mentor, oder nicht? Unser Führer?«
Führer , dachte sie. Lehrer als Führer . Da war etwas, ein Kern der Erkenntnis, sie wusste, dass sie ihn für die nächste Verbindung brauchte. Wenn sie ihn nur isolieren könnte, ihn herausquetschen und extrahieren könnte.
»Wo bist du, Alex?«, fragte Keller und
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