Der Menschenspieler
lauter.
»Und?«, sagte sie. »Spuck’s aus.«
Keller grinste. »Nee.«
»Keller! Ich dachte, wir wollten heute Abend lernen.«
»Tun wir das?«, fragte er, immer noch lächelnd. »Lernen?«
»Was sollte es sonst sein?«
»Rätsel lösen«, sagte Keller, wobei er leiser sprach und Aldiss perfekt imitierte. Er trank einen großen Schluck Bier, seine Augen funkelten. In dem Augenblick wurde Alex etwas bewusst: Sie hatte Spaß.
»Wirst du mir erzählen, was du in der Bibliothek gefunden hast, oder nicht?«, fragte sie.
»Noch nicht.«
»Wenn du es mir nicht zeigst, Keller, dann werde ich …«
Er lehnte sich vor und küsste sie. Es ging schnell und stumm vonstatten; die Tischbeine bewegten sich leicht, und ihre Flaschen schwappten über, als wäre ein Zug über die Schienen vor dem Nebenausgang des Rebecca’s gefahren. Alex war wie benommen.
»Entschuldige«, sagte er.
»Nein. Nein, ich wollte nicht …«
»Hier.«
Der Junge griff nach unten und holte etwas aus seinem Rucksack. Es war eine dicke Mappe mit einem Sticker an der Seite: I LOVE VERMONT .
Keller warf ein Buch auf den Tisch. Es rutschte über die glatte Oberfläche und stieß gegen Alex’ Arm. Sie hob es hoch und sah auf das Cover, das ihr nur allzu bekannt vorkam. Es war Fallows’ Die Windung.
»Das ist nicht witzig, Keller«, sagte sie und dachte daran, wie schnell er sich auf sie zubewegt hatte, erinnerte sich an seinen sanften Atem an ihren Lippen. »Ich habe genau dasselbe in meinem Zimmer.«
Keller ignorierte die Stichelei. »Anfangs habe ich ihm nicht geglaubt«, sagte er. »Ich dachte, es ist bloß wieder einer von Aldiss’ Tricks. Aber dann habe ich angefangen, dieses Ding zu lesen. Ich meine, es richtig zu lesen, Alex. Es auf die Art zu lesen, von der der Professor im Kurs spricht. Damit zu arbeiten. Sich hinein zuarbeiten. Es zu dekonstruieren.«
»Und?«
Keller holte tief Luft. Er griff nach vorn und berührte das Buch, aber es war eine vorsichtige Berührung, als wäre das Buch elektrisch aufgeladen. »Aldiss hatte recht. Da gibt es Sachen … Herrgott, Alex, da drin stehen Dinge, die uns sagen, wo wir ihn finden.«
»Du meinst Fallows?«
Ein Nicken. »Ja, ich glaube schon. Es ist wie eine …«
»Karte«, sagte sie und erinnerte sich an das, was Stanley Fisk zuvor gesagt hatte.
»Das ist es. Die Windung ist eine verdammte Landkarte.«
Sie berührte jetzt das Titelbild des Buchs, fuhr mit den Fingern über die kühle Oberfläche. Das Umschlagbild war verwirrend, bizarr. Eine Frau in einer Stadt, aber es war eine merkwürdige Stadt. Die Wolkenkratzer warfen keine Schatten; die Straßen verliefen alle im Zickzack auf die Mitte der Metropole zu, wo ein schwarzes, von Wein umranktes Herz lag. Der Buchtitel schwang sich hinauf; die Worte bestanden aus Ranken und Ästen, die aus dem bedeckten Herz wuchsen:
DIE WINDUNG
von Paul Fallows
Alex sagte: »Zeig mir, was du gefunden hast.«
»Wie gesagt bin ich heute Morgen in die Bibliothek gegangen. Ich dachte, ich lese ein bisschen, weißt du, als Vorbereitung für den Abendkurs. Aber schon nach ein paar Seiten bin ich müde geworden. Richtig schläfrig. Wir hatten ein Spiel am Samstag, und ich habe mich noch nicht richtig davon erholt.«
»Jetzt sag bloß nicht, du hast davon geträumt.«
»Es war kein Traum«, sagte er bestimmt. »Ich habe meinen Kopf auf den Tisch gelegt. Ich war da im Lesesaal und …«
»Was war es, Keller?«, fragte sie ungeduldig.
»Hier.«
Er legte das Buch auf die Seite und zeigte darauf. Da, ganz am Rand seines Fingers, war die Seite beschmutzt. Der Fleck fiel kaum auf, es war nur ein kleiner formloser Punkt. Er war so winzig, dass Alex dachte, es sei ein Tintenklecks, und sie versuchte, ihn wegzuwischen.
»Nein«, sagte Keller. »Es ist gedruckt. Ich dachte, es wäre vielleicht nur in meinem Buch, ein Fehler der Druckerei oder so. Also ging ich ans Regal und suchte den Bibliotheksband von Die Windung . Genau das Gleiche. Derselbe Fleck an exakt derselben Stelle.«
»Was zum Teufel ist das?«
Keller sagte nichts. Er schlug das Buch lediglich nahe beim Fleck auf und zeigte darauf. Sie konnte den winzigen Fleck Druckerschwärze am äußeren Rand schweben sehen, kaum mehr als ein Körnchen.
Dann traf sie die Erkenntnis wie ein Schlag.
»Es ist eine Markierung«, platzte sie heraus.
»Genau.« Kellers Augen strahlten vor Aufregung. »Wie ein Lesezeichen oder so. Es muss diese Seite sein, denn auf der folgenden Seite gibt es keine Markierung.
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