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Der menschliche Körper

Der menschliche Körper

Titel: Der menschliche Körper Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paolo Giordano
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würde er reagieren, wenn er die Art seiner Beziehungen zu Irene Sammartino kennte? Er möchte das lieber nicht wissen. Langsam wiederholt er: «Wenn es Sie nicht stört, komme ich hierher. Vorübergehend.»
    «Okay, okay, wie Sie wollen», sagt Ballesio ungeduldig. «Wissen Sie, was, Egitto? Sie sind der am wenigsten unterhaltsame Offizier, der mir in den dreißig Jahren meiner Laufbahn begegnet ist.»
    In der Nacht jedoch tut er kein Auge zu. Ballesio schnarcht tatsächlich wie ein Traktor, und der Oberleutnant bringt seine Zeit damit zu, sich aufzuregen, er stellt sich das Gaumenzäpfchen des Obersten vor, wie es unter der vorbeifließenden Luft vibriert, die mit Blut gefüllten Drüsen, geschwollen und hypertroph. Er würde gern aufstehen und ihn kräftig schütteln, aber er hat nicht den Mut dazu, er würde gern auf die Krankenstation gehen und sich eine Packung Tavor schnappen, aber auch dazu fehlt ihm der Mut. Irene Sammartino ist dort, sie schläft. Wenn er daran denkt, kommen ihm immer noch Zweifel, ob es sich nicht doch nur um eine detailgenaue anhaltende Halluzination handeln könne. Das Einzige, was er tun kann, ist, Ballesio mit Schnalzlauten zu besänftigen. Der Oberst beruhigt sich für ein paar Sekunden, dann fängt er umso lauter wieder an. Manchmal verfällt er in Apnoe, und wenn er dann wieder anfängt zu atmen, stößt er ungeheuerliche Gurgellaute aus.
    Die Frustration macht Egitto anfällig für den Ansturm der Erinnerungen. Der Schutzmantel des Duloxetin wird durchlässig, gibt dem Gedankenstrom schrittweise nach. Der Oberleutnant geht die wenigen, denkwürdigen Episoden der Geschichte mit Irene durch. Wie lang hatte sie gedauert? Nicht lang, zwei Monate maximal. Sie besuchten gemeinsam Kurse an der Schule für Offiziersanwärter. Sie waren sich nähergekommen, weil sie eine Spur lockerer waren als ihre überaus artigen Kameraden – sie durch ihr impulsives Temperament und er durch seine bissige Art, eine unerwartet kostbare Hinterlassenschaft von Ernestos Worttiraden.
    Die Anziehung, die Irene auf den Oberleutnant ausübte, war von der kalten Art, aber manchmal schlug das plötzlich um, und dann loderte sie hoch auf, wie wenn man Benzin ins Feuer gießt. Von der mit Irene verbrachten Zeit erinnert er sich vor allem an die sexuellen Begegnungen in dem zum Ersticken engen Zimmer im Schlaftrakt, an die Leintücher, die stets etwas feuchter waren, als sie es sich gewünscht hätten. Aber Irenes überbordendes Gefühl war für ihn bald eine Quelle der Angst geworden, und als auch die erotischen Feuerstürme seltener zu werden begannen, hatte Egitto nichts gefunden, was er an ihre Stelle hätte setzen können.
    Er hat das Bild von ihnen beiden vor sich, ausgestreckt auf dem schmalen Bett, wach und träge, es ist ein Sonntagmorgen, und sie lauschen dem Gurren der Tauben auf dem Fenstersims, es ähnelt den rücksichtslosen Lauten eines Orgasmus, eine Assoziation, die Egitto zu ignorieren beschließt: Und das ist der Augenblick, in dem ihm klar wird, dass er keine Lust mehr hat. Er sagt es Irene, ungefähr mit diesen brutalen Worten.
    Aber Irene Sammartino loszuwerden, erwies sich als gar nicht so einfach. Zwei Wochen nach der Trennung gab es da dieses unangenehme Nachspiel, sie zitierte ihn in eine Bar im Zentrum und beichtete ihm völlig aufgelöst, dass ihre Menstruation sechs Tage überfällig war – das konnte kein Zufall sein, nein, ihre Regel war pünktlichst, absolut zuverlässig. Aber den Test wollte sie nicht machen, noch nicht. Sie gingen lang unter den Arkaden auf und ab, ohne sich zu berühren, Egitto erwog im Stillen verschiedene Szenarien, er konnte seinen Ärger nur mit Mühe unterdrücken, und unterdessen versuchte er sie zu überzeugen, sich Sicherheit zu verschaffen. Das Ganze erwies sich als falscher Alarm. In den folgenden Monaten tauchte Irene immer dann auf, wenn er es am wenigsten erwartete. Ihre gemeinsamen Freunde waren rein logisch betrachtet mehr seine als ihre Freunde, aber Irene ließ keine Gelegenheit zu einem Treffen aus. Sie kam immer allein, strahlend, und eine Weile lang war sie unwahrscheinlich laut. Sie war für alle offen, übersah nur ihn, aber wenn sie diese Rolle nicht mehr durchhielt, verschloss sie sich in Schweigen. Sie fing an, mit der Unruhe eines Raubtiers um sich zu schauen, warf häufig Blicke in seine Richtung, und im Verlauf des Abends fanden sie beide sich früher oder später allein wieder, fragten sich gegenseitig, wie es so gehe, immer

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