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Der menschliche Körper

Der menschliche Körper

Titel: Der menschliche Körper Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paolo Giordano
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verlegener.
    Dann, von einem Tag auf den andern, verschwand Irene Sammartino im Nichts. Die Vermutung, die sich unter den Schülern der Offiziersschule breitmachte, war, dass sie vom Geheimdienst für ein Sonderprogramm im Ausland angeworben worden war. Egitto wunderte das nicht: Sie war immer ein aufgewecktes Mädchen gewesen, sie besaß Kommunikationstalent. Er stellte sich jedenfalls nicht viele Fragen. Er fühlte sich erleichtert.
    Die Nase von Oberst Ballesio gibt einen lauten Pfiff von sich, wie das Zischen einer Rakete, der dann in einem Schnalzen endet. Egitto dreht sich zum tausendsten Mal auf seinem Bett um. Irene Sammartino … wie viele Jahre sind vergangen? Acht? Neun? Und nach all diesen Jahren taucht sie ausgerechnet hier in Gulistan auf, in seinem Zelt, wie ein Trojanisches Pferd, welches das Schicksal bei Nacht und Nebel in sein Versteck eingeschleust hat. Um ihn zu verwirren, um ihn zurückzubringen. Wohin, das weiß er nicht. In die funkelnde Welt der Lebenden? Nein, mit Schicksal hat das nichts zu tun. Egitto ist oft versucht, sich vom Spiel der Koinzidenzen blenden zu lassen, aber hier ist Irene Sammartino mit im Spiel. Wenn sie in die FOB gekommen ist, dann, weil sie es so beschlossen hat, sie muss etwas im Schilde führen. Er wird sich nicht täuschen lassen.
Seien Sie auf der Hut, Oberleutnant
.
     
    Ietri und Zampieri haben gemeinsam Wachdienst auf dem Hauptturm. Der Mond ist eine leuchtende schmale Sichel über dem Gebirge, und Ietri erinnert sich an einen Merkvers, den er in der Grundschulzeit gelernt hat:
Der Mond ist ein braver Schüler, wenn er ein a macht, nimmt er ab, wenn er ein z macht, nimmt er zu.
Bei zunehmendem Mond stand sein Vater vor Morgengrauen auf, um Rüben auszusäen. Bei einem a am Himmel war er jedoch eines Abends im Mai aus dem Haus gegangen und nicht mehr wiedergekehrt.
    «Es ist abnehmender Mond», bemerkt er für sich.
    «Was?»
    «Nichts.»
    Zampieri setzt sich auf den Boden und streckt die Beine aus. Sie bewegt die Stiefelspitzen vor und zurück. «Es ist kalt», sagt sie. «Scheiße, stell dir das erst im Januar vor. Das wird zum Erfrieren.»
    Ietri zieht die Handschuhe aus der Tasche und bietet sie ihr an. Sie beachtet das gar nicht, redet weiter und betrachtet dabei die wundgebissene Kuppe ihres rechten Daumens. Wo das Fleisch rosa ist, beißt sie zu. «Der Hauptmann sollte hierherkommen. Um zu spüren, wie kalt es ist. Aber der, der kriegt doch den Arsch nicht hoch.»
    «Wer, Masiero?»
    Zampieri starrt auf die Stiefelspitzen, während sie weiter an ihrem Finger herumkaut. «Hast du gesehen, wie er mich behandelt hat? Mademoiselle hat er mich genannt, wie irgendein beschissenes Model.»
    «Heißt es so?»
    Wieder beachtet sie ihn nicht. «Ich kann ein MG laden, das versichere ich dir. Ich kann alle Waffen der Welt laden. Dieses Maschinengewehr war zu hoch angebracht. Masiero sollte mich mit meiner SC schießen sehen. Dieses Fass, das schieß ich ihm damit in Stücke.»
    «Mit einer SC könntest du gar nicht so weit schießen», widerspricht ihr Ietri, hat aber gleich den Eindruck, etwas Falsches gesagt zu haben. In der Tat sieht Zampieri ihn befremdet an, etwas angewidert, bevor sie weiterspricht. «Diese Waffe hat geklemmt, das hab ich ihm gesagt. Das muss Simoncelli gewesen sein, er hat vor mir geschossen. Der macht an den Kanonen immer was kaputt.»
    Sie nimmt den Daumen aus dem Mund und reibt ihn mit dem Zeigefinger. Sie löst den Pferdeschwanz und schüttelt den Kopf. Mit offenen Haaren ist sie schöner, denkt Ietri, weiblicher.
    Einen Augenblick später schluchzt sie haltlos. «Er hat mich Signorina genannt! Scheißmacho! Mit euch macht er das bestimmt nicht. O nein! Das ist nur, weil ich ein Mädchen bin. Eine Idiotin war ich … als ich … diesen Beruf … gewählt hab.»
    Die Schultern zucken vom Weinen, und Ietri muss den Impuls unterdrücken, ihr über den Kopf zu streichen.
    «Ich bin … unfähig.»
    «Nein, bist du nicht.»
    Mit einem Ruck hebt sie den Kopf und vernichtet ihn mit Blicken. «Doch, bin ich! Was weißt du denn schon davon? Nichts. Nichts weißt du!»
    Der Ausbruch scheint sie zu beruhigen. Ietri beschließt, nicht zu widersprechen. Zampieri weint noch immer, aber leise, als ob das nur eine andere Art zu atmen wäre. Ietri weiß nicht, wie man ein Mädchen tröstet. Seine Mutter hat er oft getröstet, besonders in der schlimmen Zeit, als der Vater hinter den Feldern verschwunden war, aber das war anders. Er musste nicht viel

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