Der menschliche Makel
Sir. Du hast recht, Coleman. Das hier führt in die Katastrophe. Mit Einundsiebzig willst du dich da hineinstürzen? Mit Einundsiebzig willst du dich davon herumreißen lassen? Mh-mh. Ich glaube, es ist besser, wir beschränken uns auf das Grundsätzliche.«
»Tanz weiter«, sagt er und drückt eine Taste auf dem Sony neben dem Bett. The Man I Love beginnt noch einmal von vorn.
»Nein. Nein. Ich flehe dich an. Ich muss an meine Karriere als Putzfrau denken.«
»Hör nicht auf.«
»Hör nicht auf«, wiederholt sie. »Das hab ich irgendwo schon mal gehört.« Tatsächlich hat sie das Wort »aufhören« nur selten ohne ein »nicht« gehört. Jedenfalls nicht von Männern. Und von ihr selbst ebenfalls nicht. »Ich dachte immer, ›hör nicht auf‹ wäre ein einziges Wort«, sagt sie.
»Ist es ja auch. Tanz weiter.«
»Dann verlier das hier nicht«, sagt sie. »Ein Mann und eine Frau in einem Zimmer. Nackt. Wir haben alles, was wir brauchen. Wir brauchen keine Liebe. Mach dich nicht klein - sei kein sentimentaler Einfaltspinsel. Das würdest du nur zu gern sein, aber sei es nicht. Lass uns das hier nicht verlieren. Stell dir vor, Coleman, stell dir vor, wir machen damit weiter.«
Er hat mich noch nie so tanzen sehen, er hat mich noch nie so reden hören. Ist lange her, dass ich so geredet hab - ich hab schon gedacht, ich hätte vergessen, wie das geht. Hab mich so lange versteckt. Niemand hat mich je so reden hören. Manchmal die Falken und Krähen im Wald, aber sonst niemand. Normalerweise rede ich mit Männern nicht so. So verwegen wie jetzt bin ich noch nie gewesen. Stell dir vor.
»Stell dir vor«, sagt sie, »stell dir vor, ich würde jeden Tag kommen - und dann das hier. Die Frau, die nicht alles besitzen will. Die Frau, die nichts besitzen will.«
Dabei hat sie noch nie etwas so sehr besitzen wollen.
»Die meisten Frauen wollen alles besitzen«, sagt sie. »Sie wollen deine Post besitzen. Sie wollen deine Zukunft besitzen. Sie wollen deine Fantasien besitzen. ›Wie kannst du es wagen, mit einer anderen als mir ficken zu wollen. Deine Fantasie sollte ich sein. Warum siehst du dir Pornos an, wenn du zu Hause mich hast?‹ Sie wollen den besitzen, der du bist, Coleman. Aber die Lust ist nicht, einen anderen zu besitzen. Die Lust ist das hier. Dass im selben Raum wie du noch ein anderer Bewerber ist. Ach, ich sehe dich, Coleman. Ich könnte dich mein Leben lang hergeben und dich trotzdem haben. Nur durch Tanzen. Etwa nicht? Habe ich recht? Gefällt dir das, Coleman?«
»Was für ein Glück«, sagt er und sieht ihr zu und lässt sie nicht aus den Augen. »Was für ein unglaubliches Glück. Das war mir das Leben schuldig.«
»Tatsächlich?«
»Es gibt keine wie dich. Helena von Troja.«
»Helena von Nirgends. Helena von Nichts.«
»Tanz weiter.«
»Ich sehe dich, Coleman. Ich sehe dich wirklich. Willst du wissen, was ich sehe?«
»Klar.«
»Du willst wissen, ob ich einen alten Mann sehe, stimmt's? Du hast Angst, dass ich einen alten Mann sehe und davonlaufe. Du hast Angst, dass du mich verlieren wirst, wenn ich all die Unterschiede zwischen einem jungen Mann und dir sehe, wenn ich sehe, was schlaff und verschwunden ist. Weil du zu alt bist. Aber willst du wissen, was ich sehe?«
»Was?«
»Ich sehe einen Jungen. Ich sehe, dass du dich verliebst wie ein Junge. Und das darfst du nicht. Du darfst nicht. Willst du wissen, was ich noch sehe?«
»Ja.«
»Ja, jetzt sehe ich es: Ich sehe einen alten Mann. Ich sehe einen alten Mann, der im Sterben liegt.«
»Erzähl mir davon.«
»Du hast alles verloren.«
»Das siehst du?«
»Ja. Du hast alles verloren außer mir und meinem Tanz. Willst du wissen, was ich sehe?«
»Was siehst du?«
»Du hattest das nicht verdient, Coleman. Das sehe ich. Ich sehe, dass du schrecklich wütend bist. Und so wirst du enden. Als ein wütender alter Mann. Und so hätte es nicht kommen sollen. Ich sehe deine Wut. Ich sehe den Zorn und die Scham. Ich sehe, dass du als alter Mann verstehst, was Zeit ist. Das versteht man erst, wenn das Ende nahe ist. Aber du verstehst es jetzt. Und es macht dir Angst. Weil du nichts wiederholen kannst. Du kannst nicht noch mal zwanzig sein. Das kommt nicht mehr zurück. Und so geht es zu Ende. Und noch schlimmer als das Sterben, noch schlimmer als tot sein sind die verdammten Schweine, die dir das angetan haben. Die dir alles weggenommen haben. Ich sehe das in dir, Coleman. Ich sehe es, weil es etwas ist, was ich kenne. Die verdammten
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