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Der Metzger bricht das Eis

Der Metzger bricht das Eis

Titel: Der Metzger bricht das Eis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Raab
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Zahlen, Zeichen und Ziffern beschrifteten Seiten kommen zum Vorschein.
    Tapfer war sie bis jetzt, die dreizehnjährige Lisl, besonnener und tatkräftiger als so mancher Erwachsene, jetzt aber drückt es ihr die Tränen in die Augen: »Das ist von Papa!«
    »Papa!«, flüstert sie nach einer kurzen Pause erneut, dann weint sie und wiederholt es dabei ohne Unterbrechung: »Papa, Papa, Papa, Papa …« Keiner der anwesenden Erwachsenen, weder der Metzger, die Danjela, deren Hand sich nun zärtlich um die Schulter des Mädchens legt, noch Sophie sind zu einem Wort des Trostes fähig. Nur Bernhard Axpichl findet den einzig richtigen Ansatz. »Und was steht da jetzt?«, will er wissen.
    Und weil Lisl Kalcher heilfroh darüber ist, dass Bernhard Axpichl trotz des Verlustes seines Vaters irgendwie ganz der Alte zu sein scheint, beginnt sie zwar noch schluchzend, aber trotzdem zu erzählen.
    »Das ist das Geheimnis von Papa und von mir, das haben wir uns ausgedacht, und das bring ich grad der Ada bei.«
    Sie nimmt einen Zettel zur Hand, notiert abwärts verlaufend das Alphabet, dann beginnt sie die Übersetzung danebenzuschreiben. Pro Buchstabe zwei Möglichkeiten. Aus dem A zum Beispiel wird ein Stern oder die Ziffer 7, aus dem B wird ein Rufzeichen oder der Buchstabe X, das C ist ein Ist-gleich-Zeichen oder ein Smiley, das D ein Plus und A ohne Querstrich, also ein Dach.
    »Und das Z«, nun spricht sie laut mit, »ist ein Größer-Zeichen oder ein Alpha. Ganz einfach.«
    »Ganz einfach!«, wundert sich Danjela Djurkovic, »könnte ich mir bei besten Willen nix merken, und ganz ehrlich, bin ich sicher, hätte auch große Problem Einstein!«
    Was offenbar für die kleine Anna Kaufmann ein Stichwort zu sein scheint. Munter beginnt sie zu singen, die Küchenuhr zeigt mittlerweile zwei Uhr.
    »Wir gehen auf große Fahrt, Vollgas beim Raketenstart,
    in die Wolken rein – kleine Einsteins …«
    Bernhard Axpichl lässt sich nicht zweimal bitten und stimmt mit ein:
    »Superschnell – erkunden wir die Welt,
    laden euch mit ein – kleine Einsteins.
    Das ist unsere Einsatz, Achtung cown-town …«
    Energisch stupst er Lisl Kalcher an, und verhalten, aber doch gibt sie ein:
    »fünf – vier – drei – zwei – eins!« von sich.
    Dann singen alle drei:
    »Alle Mann zum Rocket, Maschinen startklar!«
    Ein aus Kindermund ansteigener langer Ton ist zu hören, und los geht’s, wieder von vorne:
    »Wir gehen auf große Fahrt, Vollgas beim Raketenstart,
    in die Wolken rein – kleine Einsteins …«
    »Einmal noch Kind sein dürfen!«, geht es dem Metzger durch den Kopf. So sehr Kind, dass selbst die kleinste Melodie wieder Kraft genug besitzt, wenigstens für einen kurzen Augenblick den größten Schmerz vergessen zu lassen. Einzig irritierend an diesem Gesang fällt dem Metzger dabei der seltsame ihm von den Kindern zugeworfene Blick auf, so als verstünden sie nicht, warum hier keiner der Erwachsenen mitsingt. Da steht man als kinderloser oder bereits mit größeren Kindern gesegneter Erdenbürger in puncto Aktualität einfach auf verlorenem Posten.
    »Was singt ihr da?«, will der Metzger wissen.
    »Das ist eine Kinder- DVD , die kleinen Einsteins, die kennt doch jeder, die schau ich immer mit der Mama!«, erklärt die kleine Anna.
    »Und ich schau die mit dir, wenn ich bei euch bin!«, erklärt Bernhard Axpichl.
    »Und ich früher mit Ada und Papa!«, erklärt Lisl kleinlaut, und zurück ist er, der Schmerz.
    Dann sitzen sie wieder still bei- und vor allem nebeneinander, die drei Kinder, und der Metzger kann die Augen nicht lassen von diesem so einträchtigen Anblick. Er schaut und schaut und fängt schließlich zu denken an, rechnet, wie alt sie sein könnte, die kleine Anna, ruft sich das Todesjahr von Horst Kalcher in Erinnerung, weiß, dass Maria Kaufmann nach der Scheidung von Erich Axpichl, also etwa ein Jahr vor und wenige Monate bis nach Horst Kalchers Tod, hier bei den Kalchers gewohnt hat, grübelt, warum die zurzeit mamalose Anna Kaufmann überhaupt hier gelandet ist, grübelt, warum Agnes Kalcher ihren Kontakt zu Maria Kaufmann verheimlichen will, grübelt, ob Maria Kaufmann vielleicht sogar schon vor ihrer Scheidung von Erich Axpichl zu einem Kalcher-Familienmitglied etwas engere Kontakte gepflegt haben könnte, sieht sich Lisl Kalcher und Anna Kaufmann näher an und ist sich sicher. Kein Obdachloser ist ungestüm über seine roten Moonboots stolpernd als Retter vom Pavillon durch die tief verschneite Wiese

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