Der Metzger bricht das Eis
erstaunlicher Lebendigkeit, junge, alte, Landschaftsdarstellungen, Berge, jede Menge detailverliebter Entwürfe von ein und demselben bäuerlichen Gebäude, das eindeutig der Abbildung einer mit »Kalcherwirt« beschrifteten beiliegenden Postkarte entspricht. Hier ist ein begnadeter Zeichner am Werk gewesen, das steht fest.
Insgesamt drei solcher Skizzenblöcke verbergen sich in dem Koffer, der Rest sind Notizbücher, allesamt beschrieben in dieser seltsamen wirren Aneinanderreihung aus Zahlen, Zeichen und Buchstaben.
»Ist große Künstler, oder ist große Spinner, obwohl ist meistens sowieso nix Unterschied. Oder ist Geheimcode«, stellt Danjela Djurkovic fest.
»Zuallererst ist es ein Geheimnis, wo sich der Eigentümer befindet!«, meint der Restaurator, und genau dieses Geheimnis hält ihn die nächsten beiden Tage auf Trab. Vergeblich.
Alles, was er nach seinen mehrmaligen Besuchen im Park und einem ausgedehnten Streifzug durch diverse nahe gelegene Grünanlagen findet, ist die Erkenntnis, mit welcher Blindheit Zu- beziehungsweise Missstände bedacht werden, so lang sie einen in gewisser Weise nicht persönlich betreffen. Nicht, dass er ein gefühlskalter Mensch wäre, der Willibald, trotzdem nimmt er sie jetzt auf seiner Suche viel bewusster wahr, die sich im Grunde unübersehbar aus dem Stadtbild herausschälende Armut. Eine Armut, die all die hell erleuchteten Fensterscheiben, die warm nach außen strahlenden Wohnungen und die dampfenden Rauchfänge in den Hintergrund rückt und zur Kulisse werden lässt. Kein Park mit nicht mindestens einem Bewohner, keine leer stehende Unterführung, kaum eine nächtens öffentliche unbevölkerte Toilette. Je größer die Metropole, desto größer die Kälte.
Am Abend des dritten Tages duldet seine Sorge schließlich keinen Aufschub mehr, trotz Terminkollisionen, denn es ist Besuch in der Werkstatt. »Brauchst du wirklich nix lang überlegen, gehst du! Außerdem ist Lillimaus bei mir in beste Hände!«
»Hand, Danjela, Hand. Singular!«, klopft Willibald Adrian Metzger seiner Herzdame auf den Gips. »Ich beeil mich!«, versichert er dann und verlässt den Gewölbekeller.
»Metzger! Was führt Sie her aus Ihrer Abstellkammer, hat wer Ihren Sperrmüll durchlöchert? Ich sag Ihnen, es war der Holzwurm.«
Provokant ist das Grinsen in Josef Krainers Visage. Entsprechend widerwillig setzt der Metzger den Grund seines Besuchs in die Tat um, schildert sein Anliegen, den Einkaufswagenfund und den Transport des fremden Besitztums in seine Werkstatt.
Die Antwort ist unmissverständlich: »Einen Sandler wollen Sie als vermisst melden! Wer bitte vermisst einen Sandler?«
»Ich«, lässt der Metzger seinem Zorn nun freien Lauf: »Und damit sind das wahrscheinlich schon mehr Menschen, als wenn Sie abgängig wären, Krainer!«
»Vermisste Sandler kann ich keine bieten, nur tote!«, übergeht Josef Krainer die offensichtlich nicht gänzlich wirkungslose Wortmeldung des Restaurators. Unaufgefordert wendet sich der Ermittler dem Computer zu und erklärt: »In harten Wintern kommt das so häufig vor, wie wir sonst Alleinstehende aus ihren Wohnungen tragen. Und ich trau mich wetten, jeder Städter ist schon an so einem toten Sandler vorbeispaziert, ohne es zu wissen!«
Der Bildschirm wird gedreht und ein Foto mit einer blutüberströmten Leiche präsentiert: »Also, Metzger, das is der Frischeste: Heinz Rudolf, 57 Jahre, im Morgengrauen von einer Brücke auf die Fahrbahn gestürzt, kein schöner Tod, da wär natürlich keiner vorbeispaziert. Sie schütteln den Kopf, gut, oder eigentlich schlecht. Also zum Nächsten. Da hätten wir einen von vorgestern.« Ein neues Bild kommt zum Vorschein: »Karl Schrothe, 39, ist wahrscheinlich schöner gestorben, als er gelebt hat, betrunken eingeschlafen und erfroren in einer Haltestelle. Ein Motorradfahrer hat ihn mitten in der Nacht gefunden.«
Friedlich ist das Gesicht des Verstorbenen, friedlich und eindeutig: »Das ist er!«, stellt der Metzger betroffen fest.
»Keine Angehörigen, kein Geld. Wird also ein Armenbegräbnis, darf der Staat wieder blechen. Womit Sie dann nach Hause gehen dürfen, Metzger. Oder wollen Sie mich noch ein bisschen länger aufhalten wegen einer besoffenen Leich?«
Regungslos steht Willibald Adrian Metzger inmitten der ihm so fremd gewordenen Dienststelle, betrachtet ungläubig das vor sich sitzende Ungetüm Mensch und weiß eines mit Sicherheit: Er ist hier völlig fehl am Platz. Unnötig zu
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