Der Metzger bricht das Eis
Knien. Alle haben auf ihn eingeredet, nachdem ihn Opa ins Wohnzimmer getragen und aufs Sofa gelegt hat, aber der Urliopa hat nur beim Fenster hinausgeschaut. Das ist das Schlimmste für mich, wenn er an mir vorbeisieht, als würde es mich gar nicht geben. Vielleicht ist das in den Momenten ja auch so, vielleicht sind wir für ihn plötzlich alle verschwunden, und er läuft ganz allein durch seine Gedanken. Vielleicht läuft er deshalb dann auch ab und zu ganz allein durch den Wald, und es dauert eben, bis er wieder nach Hause findet.
Das letzte Mal, dass Urgroßvater sich verlaufen hat, ist jetzt mehr als einen Monat her, da wurde er von der Polizei heimgebracht.
Wir sollten ihn einfach nicht mehr allein spazieren gehen lassen und ihm am Abend seine Schlaftabletten geben.
13
Auf Anraten des Arztes hat sich Danjela Djurkovic zwecks Nachtruhe ein Schmerzmittel gegönnt, wobei der Metzger aufgrund der Wirkungsweise und der daraus resultierenden Geräuschentwicklung den Verdacht nicht loswurde, es könnte doch eine Schlaftablette gewesen sein.
Der ersehnte Schlummer war ihm dann allerdings trotz in die Gehörgänge gepresster Silikongehörstöpsel nicht vergönnt, denn weil er sich der Nachtruhe wegen grundsätzlich auf der rechten Bettseite in die Waagrechte begibt, fand das völlig abrupte Ausschwenken des rechtwinkeligen Fremdkörpers an Danjelas rechter Schulter ein ums andere Mal ins Ziel.
»Hab ich geschlafen wie Murmeltier«, lautet an diesem Morgen der entsprechend gut gelaunte Gruß. »Und meine Willibald?«
»Wie ein Türstopper!«, fehlt es dem Metzger sowohl an Humor als auch an Elan. Zumindest Zweiterem wird auf die Sprünge geholfen, denn nach einem gemeinsamen Frühstück folgt die erste gemeinsame Gassirunde zu viert, also Danjela, Willibald, Edgar und der durchaus, wie diese Nacht vermuten lässt, mit Eigenleben behaftete Gips.
»Können wir ja gleich spazieren bis in Werkstatt!«, stellt Danjela unterwegs vergnügt fest und scheint sich pudelwohl zu fühlen mit ihrem Daumeneinschluss und der Entdeckung, dass sie ihren rechten Arm gar nicht erst beugen muss, um sich so wie üblich bei ihrem Willibald einhängen zu können.
»Ist wie Abschleppung!«, flüstert sie neckisch und stößt dem Liebsten sanft mit ihrem Ellbogen in die Seite.
»Fühlt sich eher an wie ein Gefahrenguttransport!«, und dann lacht er zum ersten Mal an diesem Tag, der Metzger.
Der Weg zur Werkstatt quer durch den Park führt zum selben Ergebnis wie am Vorabend. Der Pavillon ist leer. Folglich besteht die erste zu erledigende Arbeit in keiner restauratorischen, sondern in einer organisatorischen Maßnahme. Vorsichtig bringt er, unterstützt von seiner Danjela, im hinteren Werkstattbereich Ordnung in die Habseligkeiten des Obdachlosen und schichtet sie in einen leeren, renovierungsbedürftigen Kasten: ein kaputter Schirm, ein Wasserkanister, ein zusammenklappbarer Hocker, ein kleiner Campingtisch, alte Skistöcke, eine große Abdeckplane, eine Unterlegmatte, ein Plastiksack mit altem, steinhartem Brot, ein kleiner Sack Walnüsse, ein kleiner Gaskocher, ein paar alte Töpfe, Besteck, Plastikbecher, ein Sack voll Wäsche, zwei Plastiksäcke mit Stofftieren, zwei Plastiksäcke vollgestopft mit leeren Plastiksäcken, mehrere Säcke mit alten Zeitungen und ein zerschlissener lederner Aktenkoffer.
»Na, schaust du?«, ist die Aufforderung.
»Aber das gehört mir nicht, das …«
»Nix aber!« Der Metzger wird zur Seite gedrängt, dann landet der Koffer auf der Werkbank.
»Na bitte, ein Zahlenschloss. Da schaust jetzt du!«, stellt er amüsiert fest.
»Is zu neunzig Prozent immer gleiche Kombination!«, entgegnet ihm Danjela, dann wird mit den Worten: »Null, Null, Null« der Code eingeben und mit: »Na bitte!« der Koffer geöffnet.
Fein säuberlich geordnet stecken einige Bleistifte in den für Schreibzeug vorgesehenen Laschen. Die herunterklappbaren Fächern sind leer, und im mit braunem Filz ausgekleideten Innenraum liegen Notizbücher. Unmengen von Notizbüchern. Ohne zu zögern, nimmt Danjela Djurkovic das erste zur Hand, blättert es durch und erklärt: »Is nur Krixikraxi!« Derselbe Kommentar wird den nächsten drei Notizbüchern zugedacht, dann geht ein Raunen durch die Werkstatt:
»Musst du dir ansehen!«
Mit Bewunderung in den Augen reicht sie das fünfte Buch an den Metzger weiter: »Ist Kunstwerk auf jede Blatt.« Skizzen, Seite für Seite, eine faszinierender als die andere. Studien von Gesichtern mit
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