Der Metzger bricht das Eis
hinaufbringen lassen. Schnell ist so ein Snowmobil, da könnte er ja fast ein wenig seiner Rosi untreu werden.
Ergriffen steht er nun also neben der Bergstation des höchstgelegenen Liftes, winkt dem davonfahrenden Reini hinterher, schaut gänzlich erfüllt von dem Gedanken ›Über allen Gipfeln ist Ruh’‹ hinunter ins Tal und weiß, die nächsten fünfzehn Minuten gehört sie ihm, die Schindlgruben-Abfahrt. Ihm ganz allein.
Ein wenig zögert er, der Toni Schuster, denn loszufahren bedeutet auch irgendwann unten anzukommen, und unten anzukommen hieße, es wäre vorbei.
Ein paar tiefe Atemzüge gönnt er sich noch, betastet den Helm, die Brille, prüft, ob alles gut sitzt, verschließt den Zipp seiner roten Skijacke, richtet seine weißen Handschuhe, schlüpft in die Schlaufen seiner Stöcke und stößt sich ab. Griffig ist die Unterlage, ohne es aufstauben zu lassen zieht er seine Radien, nützt die Breite der Piste, durchstößt die feinen zu Boden rieselnden Flocken der ersten Schneekanone, spürt, wie seine Wangen benetzt werden, sieht die transparenten Tropfen auf seiner Brille, spürt, wie sein feucht gewordenes Gesicht in der kühlen Fahrtluft trocknet, erhöht die Geschwindigkeit und die Innenlage, breitet seine Arme aus und berührt mit den Fingern den Schnee. Absolute Freiheit, absolute Kontrolle, ein Folgen der Schwerkraft, ein Widerstreben der Fliehkraft. Toni Schuster spürt es und kann es benennen: Glück. Und Toni Schuster kann es vor allem auch zulassen. Lang gezogen ist sein Juchzen. Dann bleibt er stehen.
Das deutliche Echo bringt ihn ein wenig aus der Fassung, denn der von ihm abgegebene Schrei hat sich um einiges fröhlicher angefühlt, als sich der Widerhall nun anhört. Auch mit der Länge stimmt etwas nicht. Da hat Toni Schuster die Fahrt längst schon wiederaufgenommen, brüllt irgendwo noch immer ein Lebewesen aus voller Kehle, und in zwei Punkten ist er sich absolut sicher: Es brüllt ein Mensch, und dieser Mensch ist nicht er.
Toni Schuster verlangsamt seine Fahrt, bleibt wieder stehen, hört wieder einen Schrei, nimmt wieder Fahrt auf, durchbricht den Niederschlag der nächsten Schneekanone, sieht abermals die transparenten Tropfen auf seiner Brille, spürt erneut, wie sein Gesicht in der kühlen Fahrtluft trocknet, und längst ist es nicht mehr so idyllisch wie zuvor. Zügig nähern sich seine Skier einer uneinsichtigen Kuppe, Toni Schuster beschleunigt, geht in die Hocke, jetzt will er nur noch hinunter, er springt und durchbricht ihn, den nächsten Niederschlag. Und wieder Tropfen auf seiner Brille. Dann sieht er nichts mehr.
Das gehört einfach zum Urlaub dazu. Ein gemütliches, in Nischen unterteiltes Frühstückszimmer, ein reichhaltiges Buffet, eine nette Bedienung und die durch mehr kauende als sprechende Münder verbreitete Morgenstimmung. Gut, für den einen oder anderen kann es natürlich eine Beeinträchtigung darstellen, handelt es sich bei den sprechenden Mündern um eine fünfköpfige Jungfamilie, bestehend aus einem Kind im Hochstuhl, einem Kleinkind auf hochgestapelten Sesselpolstern, einem schweigenden Vater, einer angespannt wirkenden Mutter und einer dazugehörigen, hauptsächlich als: »Hast ja recht, Mama!« angesprochenen Schwiegermutter. Den Metzger stört das nicht, über die Kinder freut er sich, die Eltern bemitleidet er, der Rest dient zu Studienzwecken.
Was allerdings dem missmutigen Kellner fehlt, der ihm zuerst unaufgefordert aus der auf dem Tisch stehenden Thermoskanne Kaffee einschenkt und trotz eines »Danke, keine Milch!« dieses offenkundig schwachbrüstige Schwarz rasant in ein helles Schlammbraun verwandelt, weiß er nicht. Taub dürfte er jedenfalls nicht sein, denn auf seine Frage nach der Zimmernummer erwartet er vom Metzger offensichtlich eine Antwort.
»Zimmernummer? Und das nächste Mal bitte den Hund oben lassen«, setzt er etwas energischer nach.
»202, Ihnen auch einen wunderschönen guten Morgen, und bitte seien Sie so freundlich und bringen Sie mir einen großen Mokka.«
Abfällig deutet der Kellner auf die eben erst gefüllte Tasse, dann sieht er den Metzger provokant an und erklärt: »Hab dich eher auf einen Milchkaffee eingeschätzt!«
»Danke. Weiß hab ich ja hier genug vor der Tür!«, entgegnet der Metzger nicht mehr ganz so freundlich und dürfte damit einen wunden Punkt getroffen haben, denn abermals wendet sich der Kellner unaufgefordert der Tasse zu. Er setzt sich an den Tisch, entnimmt seiner Innentasche einen
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