Der Metzger bricht das Eis
Zeuge, wie sich Maria Kaufmann vom Dach stürzt. Ich unterhalte mich mit dem Obdachlosen, will ihn später erneut besuchen, finde aber nur seine Habseligkeiten, darunter eine Postkarte Ihres Gasthauses. Am nächsten Morgen wird der Obdachlose tot in einer Busstation gefunden. Man erklärt mir, er hätte keine Angehörigen, was ich genauso wenig glauben kann wie seinen und Maria Kaufmanns natürlichen Tod. Die Postkarte war mein einziger Ansatzpunkt, um mehr über den jungen Mann herauszufinden, deshalb bin ich hier. An einem Ort, an dem mich Ihr Halbbruder Erich Axpichl, der am Tag von Annas Unglück ebenso auf dem Spielplatz anwesend war, um seinen Sohn Bernhard in Empfang zu nehmen, im Edelweiß kurz und klein schlagen will. Auch Erich Axpichl ist mittlerweile tot, ermordet, laut Polizei von Ihrem Mann Sepp Kalcher.
Ich bin also überzeugt, der Obdachlose Karl Schrothe war Ihr bereits vor Jahren beerdigter Sohn Horst Kalcher. Warum also kämpft Ihr Sohn unter einem anderen Namen tagtäglich auf der Straße ums Überleben, während seine Familie in guten Verhältnissen lebt? Warum hat er laut Polizei keine Angehörigen? Und warum muss er zweimal sterben, um endgültig tot zu sein?«
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Herrlich – jetzt stehen ihm doch ein wenig die Härchen im Nacken. Da weiß wer deutlich mehr, als es der Gesundheit dieser Person zuträglich ist. Da hat diesen Metzger das Schicksal zu einem ganz schlechten Zeitpunkt mit den ganz falschen Menschen zusammenkommen lassen. Von nun an muss umdisponiert werden, das steht fest, und zwar im Eiltempo.
Er muss also die besprochene und von ihm erhoffte Alternative in Angriff nehmen, denn diese Alternative ist beinah perfekt:
Heute darf Ada laut Agnes wieder einmal beim Urgroßvater schlafen. Und wenn schon wer ein ebenerdiges, extra von außen zugängliches Zimmer hat, dann ist das natürlich ein Angebot, dem man unmöglich widerstehen kann. Es wird also einen kleinen Wandertag geben, und meine Güte, er muss ja nur noch abdrücken, je nachdem, wer alles dabei ist.
Sepp Kalcher jedenfalls ist fix besetzt.
Willenlos wirkt er da im Hintergrund, und das ohne allzu große Gewaltanwendung. Vielleicht weiß er einfach, dass es heute für ihn zu Ende geht.
»Wirst nicht viel spüren, versprochen!«, dann nimmt er ihm das Bewusstsein und lädt ihn auf den Motorschlitten.
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Sichtlich erschöpft hat der Metzger mittlerweile bei Tisch Platz genommen. Agnes Kalcher zögert ein wenig, dann setzt sie sich zu ihm, blickt ihn eindringlich an, holt tief Luft und zeigt eine Reaktion, mit der er nicht gerechnet hätte.
»Das ist lieb von Ihnen, dass Sie’s gut meinen«, beginnt sie. »Trotzdem, Herr Metzger, Ihr Verhalten kommt mir komisch vor: Sie tauchen hier plötzlich auf, stellen mir solche Fragen und werfen mir Vermutungen und Vorwürfe an den Kopf. Nur: Ich hab nicht um Ihre Hilfe gebeten! Meine Angelegenheiten sind meine und Ihre die Ihren. So soll es auch bleiben.«
Ihre Worte sind fest, ihr Blick allerdings ist unsicher, und genau das betrachtet Willibald Adrian Metzger als Einladung, um fortzufahren.
»So soll es vielleicht, aber kann es ganz gewiss nicht bleiben. Bei unserer Abfahrt von der Bürglalm sind wir gerade beinah die Opfer eines Verrückten geworden. Womöglich desselben Verrückten, der heute morgen Erich Axpichl ermordet, Toni Schuster angeschossen und Ihren Mann ins Gefängnis gebracht hat. Ihr Verhalten, Frau Kalcher, hinterlässt umgekehrt also auch bei mir ein komisches Gefühl, denn die Einzigen, die gewusst haben, dass wir uns auf der Bürglalm befinden, sind Sie, Laurenz Thuswalder und der Sohn Ihrer Ziehmutter, Robert Fischlmeier.«
»Wegen dem Robert, dem Laurenz und mir müssen Sie sich wirklich keine Sorgen machen, für die leg ich die Hand ins Feuer.«
Zum ersten Mal taucht eine unverbindliche Freundlichkeit auf in ihrem verhärmten Gesicht, die unübersehbar nichts weiter als ein Vorhang ist. Entsprechend unbeirrt fährt der Metzger fort:
»Warum ist Ihr Sohn Horst Kalcher im Jahr 2010 zum ersten Mal und im Jahr 2012 als Karl Schrothe zum zweiten Mal verstorben, warum ist er 2010 sozusagen lebendig begraben worden? Warum täuscht ein Mann, der bei einem Autounfall seine erstgeborene Tochter und seine Frau verliert, den eigenen Tod vor und macht damit seine zwei übrigen Töchter zu Vollwaisen?«
Nur noch mit viel Aufwand gelingt es Agnes Kalcher, Haltung zu bewahren. Sichtlich bemüht zieht sie die Mundwinkel zu einem sanften Lächeln hoch. Willibald
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